Presseerklärung
Sozialreport 2004 - Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern
- Prof. Dr. Gunnar Winkler -
Mit dem Sozialreport 2004 legt das SFZ die Ergebnisse ihrer nach 1990 jährlich durchgeführten Untersuchung zur sozialen Lage und sozialen Entwicklung in den neuen Bundesländern vor. In die zum 14. Mal durchgeführte Erhebung gehen im besonderen Maße die Befindlichkeiten und Auffassungen der Bürger der neuen Bundesländer ein.
Befragt wurden im Zeitraum August/September 2003 insgesamt 1360 Frauen und Männer, die das 18. Lebensjahr erreicht hatten und in den neuen Bundesländern einschließlich Ostberlin lebten. Wie in den vergangenen Jahren wurde die empirische Untersuchung finanziell unterstützt durch den Sozialverband Volkssolidarität e.V. sowie die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung. Mit den vorliegenden Ergebnissen konnte die bislang einzigartige Form der Dauerbeobachtung der sozialen Entwicklung in den neuen Bundesländern fortgesetzt werden.
Hauptergebnisse der Untersuchungen sind:
Erstens: Die allgemeine Lebenszufriedenheit ist vor dem Hintergrund der Reformdebatten gesunken. Die subjektiven Befindlichkeiten der Bürger der neuen Länder zeichnen sich durch eine zunehmend hohe Zukunftsverunsicherung und sich erheblich verschlechternde Bewertungen ihrer gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage sowie der allgemeinen Lebenszufriedenheit aus. Im Zeitverlauf zeigen sich deutliche Veränderungen in den Lebenslagebewertungen in den neuen Ländern: Aus einem Anfang der 90er Jahre rückwärtsorientierten Vergleich zur DDR-Zeit wurde ab Mitte der 90er Jahre zunehmend ein Ost-West-Vergleich, der vor allem ungerechtfertigte Ungleichheiten zwischen alten und neuen Bundesländern zur Grundlage hatte. Seit 2002/2003 gewinnen die Verunsicherungen hinsichtlich der künftigen Entwicklungen zunehmend an Einfluss auf die Bewertungen der Befragten (gesamtdeutsche Realität). Im Jahre 2003 waren in den neuen Bundesländern 40 % der befragten Ostdeutschen mit ihrem Leben alles in allem zufrieden - sehr zufrieden waren 3 % bzw. zufrieden 37 %, 41 % der Bürger waren teilweise zufrieden, 14 % unzufrieden und 4 % sehr unzufrieden (1 % ohne Antwort). Insbesondere in den Jahren 2002 und 2003 ging die bislang schon geringe Zufriedenheit nochmals deutlich zurück (1999/2000 waren insgesamt 59 % zufrieden/sehr zufrieden). "Zufriedenheitsverluste" traten in allen Bevölkerungsgruppen auf. Sinkende Zufriedenheiten sind - zumindest im Osten - nicht Ausdruck inzwischen gewachsener, aber nicht befriedigter Ansprüche, sondern reflektieren reale Wohlstandsverluste (z. B. durch Umstellung von DM auf Euro) ebenso wie die insbesondere im Jahre 2003 eingetretenen sozialen Zukunftsverunsicherungen. Die Zufriedenheitsverluste sind bei den über 60-Jährigen am höchsten.
Zweitens: Die wirtschaftliche Lage der Ostdeutschen hat sich weiter verschlechtert - für die nächsten Jahre wird von weiteren negativen Entwicklungen ausgegangen.
Von den Befragten bewerteten 2 % ihre wirtschaftliche Lage mit sehr gut, 28 % mit gut, 40 % mit teils gut/teils schlecht, 22 % mit schlecht und 8 % mit sehr schlecht (0,4 % ohne Antwort). Damit hat sich der seit Beginn des neuen Jahrtausends erkennbare Trend einer abnehmenden positiven und zunehmend negativen Bewertung auch im Jahre 2003 nachdrücklich fortgesetzt. Mit rd. 45 % stellte fast jeder zweite Befragte eine Verschlechterung seiner wirtschaftlichen Lage im Vergleich zu vor fünf Jahren fest, nur 13 % sahen eine Verbesserung. Bezogen auf den Zeithorizont der kommenden fünf Jahre erwarten nur 13 % Verbesserungen ihrer wirtschaftlichen Situation, gut jeder Dritte (35 %) geht von Verschlechterungen aus, 23 % erwarten keine Veränderungen (28 % können dazu keine Aussage treffen).
Drittens: Die Zukunftsverunsicherungen haben drastisch zugenommen.
Alles in allem bringen die einzelnen Bewertungen - wenn auch unterschiedlich - das Maß der real erfolgten Verschlechterungen (bzw. Stagnation) in den wirtschaftlichen Lebensverhältnissen zum Ausdruck. Das hohe Maß an sozialer Zukunftsunsicherheit kann die soziale Stabilität langfristig gefährden. Der Umbau des Sozialstaates wird nicht als notwendige Umgestaltung für alle empfunden, sondern als Angriff auf Lebensstandard und damit die Lebensqualität der Mehrheit zu Gunsten von Minderheiten in Wirtschaft und Politik.
Noch 2002 ging jeder zweite Befragte (51 %) davon aus, dass sich seine Zukunftsaussichten im Vergleich zu den vergangenen Jahren verbessert hätten und "nur" gut jeder Dritte (37 %) sah Verschlechterungen. 2003 gaben nur 24 % befragten Ostdeutschen an, dass sich die Zukunftsaussichten verbessert hätten, 52 % sehen Verschlechterungen - insbesondere Frauen, die Altersgruppen 35 bis 59 Jahre, Arbeitslose und Niedrigeinkommensbezieher.
Ausdruck der zunehmenden Verunsicherungen sind:

• Abnehmende Hoffnungen auf die Entwicklung in den nächsten Jahren. So sank der Anteil derer, die vor allem Hoffnungen mit der weiteren Entwicklung verbinden, von 31 % (2000) auf 6 % (2003) und stiegen im gleichen Zeitraum die Befürchtungen von 15 % (2000) auf 41 % (2003).
• Deutliche sinkende Zufriedenheit mit den eigenen Zukunftsaussichten, die von 40 % (1994), 42 % (2000) auf 21 % (2003) sanken. Bezogen auf die vergangenen fünf Jahre geben 67 % der 50- bis 60-Jährigen an, dass sich ihre Zukunftsaussichten verschlechtert haben.
• Die weiterhin kritische Lage auf dem Arbeitsmarkt. Der Stellenwert von Arbeit ist nach wie vor sehr hoch. Die Vergleiche über nunmehr 13 Jahre belegen, dass für 97/98 % der Bürger zwischen 18 und 59 Jahren Arbeit in ihrem Leben nach wie vor sehr wichtig/wichtig ist. Verbesserungen auf dem Arbeitsmarkt werden nur von 7 % der 18- bis 59-Jährigen erwartet, von Verschlechterungen gehen 68 % der genannten Altersgruppe aus. Im Vergleich zu 2002 haben sich die individuellen Annahmen auf Befürchtungen, arbeitslos zu werden, bzw. auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt erkennbar verschlechtert. Von den im Erwerbsleben Stehenden fühlen sich 55 % sicher (19 %) bzw. eventuell (36 %) von Arbeitslosigkeit bedroht. Das betrifft insbesondere Frauen, Arbeitslose und ältere Arbeitnehmer. Während die Mehrheit der Befragten für 2008 noch eine Arbeitslosigkeit von 5 Millionen annimmt, gehen 40 % für 2013 bereits von 6 Millionen aus. Diese Daten sind Reflexion der Trenderwartungen der Bürger. Insgesamt ergibt sich, dass den 6,1 Millionen Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern rd. 2,2 Millionen Bürger gegenüberstehen, die entweder arbeitslos sind bzw. zur Stillen Reserve gehören oder sich im vorgezogenen Ruhestand befinden. Von den 6,1 Millionen Erwerbstätigen sind zugleich 1,0 Millionen in nicht gewünschten Arbeitsverhältnissen bzw. Pendler oder sind aufgrund von Arbeitsplatzmangel "abgewandert" bzw. bereits in der Altersrente. Insgesamt fehlen rd. 3,2 Millionen Arbeitsplätze, die den Vorstellungen der Bürger bezüglich der Gestaltung ihrer Arbeitsverhältnisse entsprechen. Charakteristisch für die hohe Arbeitslosigkeit ist ein hohes Betroffenheitspotenzial. In den 13 Jahren, die seit der Vereinigung vergangen sind, verfügen 52 % der heute 18- bis 59-Jährigen über eigene Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit.
• Die Erwartungen an eine Einkommensangleichung sind weiter im Sinken. Gingen 1993 noch 76 % der befragten Ostdeutschen davon aus, dass innerhalb von 10 Jahren eine Einkommensangleichung erfolgen würde, nehmen das 2003 nur noch 22 % an. Rentner gehen inzwischen von 2030 als Angleichungszeitpunkt aus (entspricht dem Rentenversicherungsbericht 2003 der Bundesregierung).
• Vor dem Hintergrund der politischen Diskussion im Jahr 2003 um die künftige Verlässlichkeit und Finanzierbarkeit der Renten waren lediglich 3 % der Befragten der Ansicht, dass die Rentenfinanzierung auch künftig "bestimmt" gesichert sei. Von den ab 50-Jährigen gehen nur 8 % davon aus, dass ihre jetzige bzw. künftige Rente der Arbeitsleistung ihres Lebens entsprechen wird. Diese Resultate bringen einen drastischen Vertrauensverlust zu aktuellen Veränderungen der Sozialsysteme zum Ausdruck. Die enormen Zukunftsverunsicherungen im Osten reflektieren sich auch in dem nach wie vor hohen Abwanderungsdefizit durch Um- und Wegzug in die alten Bundesländer (Saldo seit 1990 = 750 000 Bürger - insbesondere junge Frauen). Als Hauptmotive gelten Wegzug wegen der Arbeit 69 %, Ausbildung 31 % und wegen der besseren Lebensbedingungen 24 %.
Viertens: Die Sozialreformen finden keine bzw. nur geringe Akzeptanz. Sie werden als Entscheidung gegen die Interessen der Mehrheit der Bürger angesehen. Die Diskussions- und Mitbestimmungsmöglichkeiten werden als unzureichend bewertet. Seitens der Bürger besteht fast durchgängig die Auffassung, dass die jetzt vorliegenden Reformansätze mehrheitlich nicht den sozial Bedürftigen dienen, sondern eine Umverteilung finanzieller Mittel zu Gunsten von Wirtschaft, Versicherungen und Unternehmen sind.
Die Debatte um den Abbau des Sozialstaates hat das Vertrauen in wichtige gesellschaftliche Institutionen untergraben. Kein bzw. wenig nur Vertrauen gegenüber dem Bundestag bzw. der Bundesregierung geben 61 % bzw. 65 % der ostdeutschen Befragten an. Im Zusammenhang mit der Diskussion und Maßnahmen zur Durchsetzung der Sozialreformen in Deutschland hat sich für die Bürger offenbar auch das Profil der einzelnen Parteien weiter verwischt. Eine Vielzahl von sich überbietenden Vorschlägen aus unterschiedlichen politischen Richtungen hat dem Bürger das Erkennen jeweils eigenständiger Vorstellungen der Parteien kaum noch ermöglicht. Die Parteienkompetenzen zu wichtigen politischen Handlungsfeldern verschieben sich dabei insbesondere zwischen SPD (seit 2000 fallend) und CDU. Der SPD wird in den einzelnen Politikbereichen eine fallende, der CDU eine steigende Kompetenz zugemessen. Den Bürgern der neuen Bundesländer fehlt es inzwischen gleichzeitig am Glauben, dass seitens der Parteien und Verbände eine - als notwendig durchaus akzeptierte - Sozialreform im Interesse der Bürger realisiert wird.
Die Frage danach, wer am meisten die Interessen der Bürger vertritt, beantworteten 43 % mit "niemand" und 6 % enthielten sich jeglicher Aussage, d. h., dass de facto die Hälfte aller Befragten ihre Interessen durch die Regierung und Opposition, durch einzelne Parteien und Verbände nicht vertreten sieht. Am ehesten wird der CDU/CSU eine die Interessen der Bürger beim Sozialumbau vertretende Politik zuerkannt - aber auch nur von 16 % der Bürger, gefolgt von SPD und PDS mit jeweils 13 %.
Die Bürger sehen vor allem in der Sanierung der Staatsfinanzen das vorrangige Anliegen der Sozialreformen. Die Bewertungen lassen insgesamt aber auch erkennen, dass der Umbau mehrheitlich als ein Umbau eines sich von der "sozialen" Marktwirtschaft entfernenden Staates zu Gunsten einer liberalisierten Marktwirtschaft im Interesse der Unternehmer, Kassenvereinigungen und Versicherungen verstanden wird.
Als Anliegen der Sozialreformen (wessen Interessen werden vertreten?) werden charakterisiert:
• An erster Stelle wird die Sanierung der Staatsfinanzen und Staatsinteressen genannt. Dabei gibt es eine relativ hohe Übereinstimmung nach Geschlecht, Qualifikation und Einkommen. Rd. 56 % der Bürger sehen vor allem in der Stabilisierung des staatlichen Finanzsystems das ureigene Interesse des Sozialabbaus und 15 % bejahen dies teilweise. 11 % verneinen das Anliegen (bei 18 % ich weiß nicht/ohne Antwort).
• Dabei ist die Übereinstimmung in Bezug auf die Interessen der Krankenkassen, Versicherungen und Unternehmen relativ hoch (rd. 46/45/37 % äußern "vor allem"). Die Sozialreformen werden eher "jugendorientiert" (30 % vor allem) als "seniorenorientiert" (6 %) bewertet.
Folgende Aspekte der Bewertung der Sozialreform sind hervorzuheben:
• Es besteht eine hohe Uninformiertheit über die einzelnen Bereiche der Sozialreform (nur 42 % meinen Bescheid zu wissen).
• Die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung werden als gering bewertet. Nur 2 % der Befragten gehen davon aus, dass die Bevölkerung Einfluss auf die Entscheidungen z. B. im Gesundheitswesen hat/hatte, 86 % verneinen das.
• Von den Bürgern findet eine Bürgerversicherung im Bereich der Krankenkassen starke Unterstützung. Dabei werden die Erweiterung des Personenkreises - 77 % Zustimmung bzw. Anhebung der Beitragsbemessungsgrenzen - 31 % Zustimmung präferiert.
• Die in den alten Bundesländern seit Jahrzehnten im Umfeld von Wirtschafts- und Arbeitsmarktproblemen hervorgebrachte These vom Missbrauch von Sozialleistungen findet auch in den neuen Ländern inzwischen einen fruchtbaren Boden. Wenige Aussagen mögen das belegen:
Der Auffassung, dass Ausländer unser Leben bereichern, stimmen 12 % der befragten Ostdeutschen zu, dass sie auf unsere Kosten leben und unsere Sozialleistungen ausnutzen unterstützen 47 % voll und ganz und 37 % teilweise (84 %). Dass die Bürger das Gesundheitswesen missbräuchlich ausnutzen, dem stimmen 17 % voll und 47 % teilweise zu, analoge Aussagen werden zu den zu hohen Anforderungen an das Gesundheitswesen getroffen.
Selbst der Aussage, dass wer arbeiten will, auch Arbeit findet, stimmen 10 % der Befragten voll und 51 % teilweise zu.
Fünftens: Die "Verfestigung" der beiden Teilgesellschaften in Deutschland hat zur Stabilisierung der Ost-Identität geführt. Die Ergebnisse der Untersuchung 2003 machen deutlich, dass die in den neuen Bundesländern seit 1990 erreichten und anerkannten Veränderungen in den Lebensverhältnissen zugleich damit verbunden sind, dass sich die beiden Teilgesellschaften in Deutschland weiter verfestigen. Sich unterscheidende Parallelstrukturen (Wirtschafts-, Eigentums- und Betriebsgrößenstrukturen, Arbeitslosigkeitsniveau, Einkommens- und Vermögensstrukturen) befördern eine eigenständige Ost-Identität. Diese hat ihre Wurzeln nicht mehr vorrangig in der gemeinsamen Vergangenheit, sondern vor allem in der aktuellen Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern. Sie ist damit als Resultat der ökonomischen und sozialen Entwicklung seit 1990 anzusehen. Im Jahr 2003 fühlten sich 73 % der Bürger der neuen Bundesländer mit Ostdeutschland stark bzw. ziemlich stark (40 %) verbunden, 58 % mit dem jeweiligen Bundesland und lediglich 38 % mit der Bundesrepublik.
Die Zufriedenheit mit dem eigenen politischen Einfluss ist weiter zurückgegangen und hat 2003 im Vergleich zu den Vorjahren einen erneuten Tiefpunkt erreicht. Nur 6 % der Befragten waren 2003 mit dem eigenen politischen Einfluss sehr zufrieden bzw. zufrieden (1992 = 13 %). Auch die Zufriedenheit mit der demokratischen Entwicklung befindet sich mit 9 % (sehr zufrieden/zufrieden) nach wie vor auf niedrigem Niveau. Insbesondere Senioren stellen Mitwirkungsdefizite fest - im Gegensatz zu ihren steigenden Bevölkerungsanteilen.
Der Rückzug in eine "Zuschauerdemokratie", die sich auf reine Beobachter- und Kritikerpositionen begrenzt, der es weitgehend an Interessenartikulation, Konfliktaustragung und Nutzung von Chancen zur aktiveren Gestaltung der Verhältnisse mangelt, hält weiter an. Gleichzeitig ist eine stärkere Beteiligung der Ostdeutschen in Vereinen, Verbänden und Initiativen festzustellen. Dies kann die direkte und unmittelbare politische Beteiligung zwar nicht ersetzen, sie schafft aber nicht zu unterschätzende Bedingungen und Voraussetzungen für eine bessere und nachhaltige Interessenartikulation und Interessenvertretung.
Zusammenfassend bleibt festzustellen: Die subjektiven Befindlichkeiten erreichen in den neuen Ländern einen bisherigen Tiefpunkt - die soziale Verunsicherung beeinflusst die Bewertung in allen Lebensbereichen - der Zukunftspessimismus steigt.