Manfred Grätz                                                                                                                                                                                                   02.01.2011
Generalleutnat a.D.
 

Bundesgeschäftsstelle des DBwV
Bundesvorsitzenden
Oberst Ulrich Kirsch
Schönhauser Allee 59

10437 Berlin


 

Armee der Einheit - eine zweigeteilte Bilanz

 

 

Sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender, Herr Oberst,

 

mit großem Interesse und sehr aufmerksam habe ich Ihren Beitrag zu genannter Thematik, veröffentlicht in der Verbandszeitschrift Nr.12/2010, gelesen, nachdem Sie ihn im Oktober nach einem Forum in unserer Kameradschaft ERH Strausberg angekündigt hatten. Ich darf Ihnen zunächst sagen, dass ich sehr wohlwollend zur Kenntnis genommen habe, dass Sie Ihre Ankündigung relativ kurzfristig wahr gemacht haben und sich zu diesem für die ehemaligen Soldaten der NVA recht bedeutsamen Thema geäußert haben.
Zweifelsohne stehen auch Erfolge auf der "Haben-Seite", um bei Ihrer Ausdrucksweise zu bleiben, die den Ehemaligen der NVA zugute kommen und die auf die Bemühungen des DBwV  zurückzuführen sind, Erfolge vorrangig im sozialen Bereich angesiedelt. Sie erinnern an Angleichung der Dienstbezüge, an die im Jahre 2004 erstrittene Abschaffung der Rentenkürzungen für die Masse der Angehörigen der NVA. Nicht zuletzt gehört dazu auch die Abschaffung des entwürdigenden Begriffes "Gedient in fremden Streitkräften". Das findet auch meine vorbehaltlose Zustimmung.
Wenn ich mich dennoch zu diesem Thema an Sie wende, dann deshalb, weil ich es nach 20 Jahren, die ins Land gegangen sind seit der Auflösung der NVA, nicht nur für gerechtfertigt, sondern für unabdingbar notwendig halte, dass sich der DBwV  zur Rolle der NVA in den Jahrzehnten des kalten Krieges, ihren Anteil an der Erhaltung des Friedens und der Verhinderung eines Weltkrieges sowie speziell zu ihrer Haltung während der Ereignisse im Herbst 1989  bekennt, und zwar deutlicher und eindeutiger, als Sie das in Ihrem Beitrag getan haben mit er Formulierung, dass "...die Mauer vom Osten her eingedrückt wurde .Und dass die Angehörigen der Nationalen Volksarmee eine Menge dagegen hätten tun können. Sie haben es aber bewusst nicht getan."  
Akzeptiert, Herr Oberst!
Aber aus meiner Sicht ist es längst an der Zeit, den Mut aufzubringen und deutlicher die Rolle der Nationalen Volksarmee und der anderen bewaffneten Organe der DDR in diesem Prozess darzustellen, auch oder gerade durch den DBwV und seine Führungsgremien.
„Friedliche Revolution“, „gewaltfreie Wende“, „deutsche Wiedervereinigung ohne Waffen“ - so oder ähnlich fanden sich jene Ereignisse von 1989/1990 in den Medien wieder. Die Gewaltfreiheit fand damals nicht nur in Deutschland, sondern in aller Welt große Beachtung, auch Bewunderung. Ich bin weit davon entfernt, das Verdienst der Gewaltlosigkeit – und ein Verdienst ist es, das dürfte unbestritten sein – allein an die Fahnen der NVA heften zu wollen. Der Besonnenheit der Menschen in der DDR – der Partei- und Staatsführung ebenso wie der Opposition, der Funktionsträger in den Kommunen genau so wie der einfachen Menschen in den Betrieben, der Bürgerbewegung ebenso wie des Machtapparates des Staates, die NVA und ihre Führung eingeschlossen – allen ist es  zu verdanken, dass die Ereignisse im Herbst 1989 friedlich und unblutig verlaufen sind. Das zu betonen scheint mir deshalb so dringend geboten, weil heute, mehr als 20 Jahre danach, der eine oder andere Politiker, zumeist Bürgerrechtler aus der DDR, glaubhaft machen möchte, dass dieses Verdienst allein der Bürgerbewegung zukomme. Gegen solche, die Wahrheit entstellende, Versuche wende ich mich mit aller Entschiedenheit.   Bei aller Anerkennung der Rolle, die die Bürgerbewegung in diesem Prozess spielte, die Waffen waren in unserer Hand. Und die Waffen blieben in den Depots, Waffenkammern und Parks, aus ihnen fiel kein Schuss, dank der besonnenen Haltung aller Soldaten der NVA und der Grenztruppen sowie der anderen bewaffneten Organe der DDR. Das ist unser Verdienst, unser Anteil an der Gewaltlosigkeit, das ist historische Wahrheit, und das lassen wir uns durch nichts und niemand streitig machen. Ich bin, wie ungezählte anderer meiner ehemaligen Kameraden, froh und auch stolz, damals dabei gewesen zu  sein und meinen Beitrag in dieser Richtung geleistet zu haben.  
Ich sage Ihnen das deshalb so deutlich, weil ich weiß, dass sich viele ehemalige Angehörige der NVA, die 1989 nach Selbstauflösung des Verbandes der Berufssoldaten der NVA dem Ruf des DBwV folgten und dessen Mitglied wurden, nicht mehr vertreten fühlen. Nicht mehr vertreten fühlen, weil sie ihre Interessen, ihre Vergangenheit, ihr engagiertes Leben als Soldat, der dem Frieden diente, genau wie der Soldat der Bundeswehr, nicht wiederfinden, oder aber, was noch schwerer wiegt und noch deprimierender ist, durch verschiedenste Medien,  Personen, auch hochrangige Politiker, verfälscht und diffamierend wiedergegeben wird.
Es fällt Ihnen sicher schwer, Herr Oberst, sich in die Rolle Ehemaliger der NVA, deren bewußtes Leben mit der NVA, dem Dienst für den Frieden verbunden war, "hineinzudenken", in deren Gefühlswelt "einzutauchen", wenn sie mit derartigen Verfälschungen, Diffamierungen konfrontiert werden. Lassen Sie mich bitte dennoch den Versuch unternehmen, mittels zweier gravierender Beispiele, ganz unterschiedlicher Art, Ihnen dabei zu helfen und    zu verdeutlichen, worum es mir und mit mir Tausenden ehemaligen Soldaten der NVA geht.  
Am 13.12.2005, im Vorfeld des 50. Gründungstages der NVA, erging eine Weisung des BVgM an die Standortältesten in den Wehrbereichen, in der es unter anderem hieß:

"Die NVA war die Armee des Unrechtsregimes der DDR. Ihr Auftrag und ihre Ordnung sind unvereinbar mit dem Selbstverständnis der Bundeswehr als Streitkräfte in der Demokratie und ihrer Soldaten als Staatsbürger in Uniform. Ein ehrendes Andenken an die NVA durch die Bundeswehr ist daher ausgeschlossen. ... Veranstaltungen aus Anlass der Würdigung des 50. Jahrestages der Gründung der NVA sowie Veranstaltungen, die einen erkennbaren Bezug zu diesem Jahrestag haben oder in anderer Weise den Zweck verfolgen, der NVA ein ehrendes Andenken zu bewahren, sind daher in Liegenschaften der Bundeswehr untersagt."
Versuchen Sie bitte auch nur annähernd nachzuvollziehen, was wohl in Menschen vorgehen muss, deren Biographien ein bewußtes Leben lang mit der NVA verknüpft waren, die treu und ehrlich ihren Dienst versehen haben. Und die immer wieder mit dem Begriff „Armee der Einheit“ konfrontiert werden.
Oder aber:
Am 09.10.2009 ließ man den damaligen Bundespräsidenten auf einem Festakt in Leipzig, der der bekannten Montagsdemonstrationen gedachte, verkünden:
"Vor der Stadt standen Panzer. Die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen. In der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt."
All diese schwerwiegenden Vorwürfe und Anschuldigungen, obwohl durch keinerlei Fakten bewiesen und fern jeglicher Realität, blieben (natürlich) unwidersprochen. Der Autor einer von der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung Dresden herausgegeben Studie, der dieses Zitat entnommen war,  hat nach der Rede des Bundespräsidenten zugegeben, er habe für diese Angaben noch keine ausreichenden Belege, eine weitere Forschung sei nötig.
Gleiche Frage wie oben, Herr Oberst!
Beispiele, die in ähnlicher Form bewusst, manchmal auch unbewusst an der historischen Realität vorbeigehen, finden sich in ungezählten Veröffentlichungen, in Zeitschriften, Zeitungen, in Filmbeiträgen und Dokumentationen.
Leider folgen auch sowohl wissenschaftliche Beiträge des MGFA, die DDR und ihre bewaffneten Kräfte betreffend, als auch Urteile der vermeintlich unabhängigen Justiz  vorgegebenen politischen und ideologischen Delegitimierungsforderungen.
All das, Herr Oberst, bewegt uns, die Ehemaligen der Nationalen Volksarmee. All das führt viele, die noch Mitglied des DBwV sind, zu der bereits oben erwähnten Frage: Vertritt der Verband tatsächlich noch unsere Interessen?

Ich weiß, und wir alle wissen sehr wohl, dass wir, die Ehemaligen der NVA der DDR, eine kleine Minderheit im DBwV  darstellen. Aber auch Minderheiten, Randgruppen, verdienen berechtigte Aufmerksamkeit. Und eine solche angemessene Aufmerksamkeit würde die Glaubwürdigkeit des Verbandes spürbar erhöhen, das ist meine feste Überzeugung.
Deshalb, Herr Oberst Kirsch, Herr Bundesvorsitzender, haben Sie Mut und bekennen Sie sich deutlich auch zu den ehemaligen Soldaten der NVA, die als deutsche Soldaten ihren Teil zur Erhaltung des Friedens in der Welt beigetragen haben und die keinen Krieg geführt haben.
Wer, wenn nicht der DBwV sollte es sonst tun, wer sollte sonst die Interessen unserer ehemaligen Soldaten in Politik und Öffentlichkeit vertreten?

Ich wünsche Ihnen für das neue Jahr 2011 erfolgreiches Schaffen und persönliches Wohlergehen
 

Mit kameradschaftlichen Grüßen