Aus Berliner Anwaltsblatt
5/2009
Eine kritische Kurzbetrachtung
Dr. Andreas Henselmann
Verursacht durch die Finanz-
und Wirtschaftskrise werden Mechanismen des Staates und seine möglichen
Regularien kritisch geprüft und teilweise erneuert oder neu geschaffen. Das ist
aus meiner Sicht nur ein erster Beginn, aber immerhin ein Beginn. Im
Zusammenhang mit diesen Maßnahmen lohnt es sich, einen Blick auf unseren
Rechtsstaat zu werfen. Hier liegt vieles im Argen. Ein paar Zahlen sollen die
Problematik skizzieren:
Im November 2007 gab es
6.636 geltende Gesetze. Die Gesetze, Vorschriften, Satzungen in den
Bundesländern und Kommunen nicht mitgezählt. In jeder Legislaturperiode des
Bundestages kommen über 500 Gesetze dazu. Und dies seit Gründung der Republik.
Wir Juristen wissen, was damit verbunden ist! Nicht nur neue Kommentare, neue
Rechtsprechung(en), neue Verwaltungsvorschriften, neue wissenschaftliche
Schriften, sondern leider auch unwissende Politiker, die über Dinge und
Problemstellungen reden und entscheiden, die ihnen von anderen vorgetragen
werden. Die sie selber nicht verstehen, aber sich dabei auf die Fachkompetenz
der Kollegen „verlassen“. Die Politiker setzen politische Interessen,
formuliert durch Gesetze, in Kraft und wissen oft nicht, was sie tun.
Das für alle
offensichtlichste Beispiel sind die Harz IV Regelungen. Gesetzestexte und
Auslegungen aus dem Jahre 2008 sind im Jahre 2009 völlig überholt. Neue
Regelungen traten in Kraft. Die Folge: überforderte Mitarbeiter in den JobCentern
und Agenturen für Arbeit. Die Leidtragenden sind die Arbeit suchenden
Bürgerinnen und Bürger. Von den Juristen, Richtern, Rechtsanwälten und
Justitiaren ganz zu schweigen.
Ebenso ist das gesamte
Steuerecht ein Recht nur für Spezialisten, neben den Gesetzen gelten 80.000
weitere Vorschriften. Hinzu kommt, dass, wie im Berliner Anwaltsblatt 3/2008 S.
67 veröffentlicht, von 698 in der Großen Koalition erlassenen Gesetzen - nur in
der Zeit von 2005 bis 2007 - 76% der Gesetze mehr Bürokratiekosten verursachen,
58% der Gesetze nach kurzer Zeit wieder geändert werden müssen, 58% der Gesetze
noch mehr Regeln verursachen, 50% sprachlich unverständlich sind und 24% der
Verweisungen auf andere Gesetze überkomplex und unüberschaubar sind.
Welcher Anwalt kann da noch
mit großer Sicherheit seinem Mandanten erklären, wir werden in kurzer Zeit
Recht erhalten?
Wer weiß schon, dass im Jahr
2007 1.263.012 neue Klagen bei den Amtsgerichten der Bundesrepublik anhängig
gemacht wurden. Bei den Landgerichten waren es in der ersten Instanz 373.331.
Dazu kamen 60.560 Berufungen und bei den Oberlandesgerichten 54.516. Beim BGH
waren über 3.400 Revisionen von Zivilverfahren in Bearbeitung.
2007 gab es über 565.780
Familien-, über 454.000 Arbeitsgerichtsverfahren sowie über 308.000 Verfahren
vor den Sozialgerichten. Im Jahr 2005 (andere Zahlen z. Zt. noch nicht
veröffentlichet, d. A.) wurden 154.317 Verfahren von den Verwaltungsgerichten,
über 82.400 Verfahren vor den Finanzgerichten verhandelt. Hinzu gezählt noch
die Berufungen der jeweiligen zweiten Instanz, ca. 75.000 Verfahren. 2.827
Verfahren wurden vom Bundesverfassungsgericht verhandelt. Noch nicht gerechnet
die in 2007 durchgeführten 918.012 Straf- und über 390.800 Bußgeldverfahren.
Nur grob überschlagen ergibt
das pro Jahr über 4 Millionen Verfahren, Sitzungstermine und Entscheidungen.
Die menschlichen Tragödien oder Geschichten, die sich hinter den Zahlen
verbergen, lasse ich bewusst außen vor; obwohl die Menschen, die streitenden
Parteien vom Richter, dem Gericht eine Rechtsprechung erwarten. Die Parteien
erhalten eine Entscheidung eines Richters.
Und das Schärfste bei meiner
Summierung kommt noch: Im Jahr 2007 wurden ca. 6 Millionen Strafanzeigen
gestellt. Und das ohne Verkehrs- und Staatsschutzdelikte. Überraschender Weise
stehen diesen Zahlen auch ebenso große Zahlen von Erledigungen gegenüber. Und
die Zahlen werden nicht kleiner. Sie sind über die Jahre hinweg statistisch
stabil.
Wer hat diese Arbeitslast zu
tragen? Natürlich zuerst die Richterinnen und Richter nebst Justizapparat. 2007
gab es 20.138 Richter, die an 1.129 Gerichten tätig waren. Über 4 Millionen
Verfahren aller Art, über 6 Millionen Strafanzeigen und über 900.000
Strafverfahren sind von diesen pro Jahr zu bearbeiten. Dazu die Bemerkungen:
Richterinnen und Richter sind auch nur Menschen - so wie wir - mit allen
subjektiven Stärken und Schwächen, mit Krankheiten, Urlaubsansprüchen,
Weiterbildungsverpflichtungen, Verwaltungsaufgaben und mit vielem mehr
belastet. Wieviel Zeit haben Sie für einen Fall?
Bei solch einem Arbeitsdruck
sind rechtsfortbildende, rechtssichere Entscheidungen m.E. nicht immer zu
erwarten. Hinzu kommt die unterschiedliche Arbeitsweise der Richterinnen und
Richter bei den Sozial- und Verwaltungsgerichten, im Unterschied zu den
Arbeits-, Straf- und Zivilgerichten. Die Ermittlungspflicht von Amts wegen
halte ich für gut.
Dass bei den zu beendenden
Verfahren im Arbeits- und Zivilrecht ein Vergleich im Vordergrund steht, ist
zumindest den beteiligten Juristen klar. Sonst wäre die Arbeit nicht zu
schaffen. Lieber eine halbe Stunde mit den Beteiligten vor
Gericht „verhandeln“ als
Entscheidungen treffen. Diese Verfahrensweise ist für die auftretenden
Rechtsanwälte Alltag aber für die oft anwesenden Parteien nicht verständlich.
Sie wollen „Recht“ und keinen Vergleich.
Pro Jahr gibt es 7.000.000
Bußgeld- und Strafverfahren nebst Strafanzeigen (ohne Staatsschutz) und diese
wurden 2007 von 5.083 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten bearbeitet. Eine
wahnsinnige Arbeitsbelastung. Darüber hinaus sind die Staatsanwälte auch noch
Dienstanweisungen unterworfen. Also sind sie nicht so unabhängig wie die
Richterinnen und Richter. Und wir vergessen oft, dass sie außerdem die
Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei begleiten und beeinflussen.
Die Arbeitslast wird dadurch
nicht wesentlich gemindert, dass Referendare den Amtsanwältinnen und
Amtsanwälten, Richterinnen und Richtern und den Staatsanwaltschaften zur Seite
stehen. Die Verantwortung trägt natürlich immer der Richter oder der
Staatsanwalt und die kann er nur wahrnehmen, wenn er sich auch mit dem Fall
beschäftigt. Bei den statistischen Zahlenangaben kann man daran nicht glauben.
Hinzu kommt und nicht vergessen werden darf der Verwaltungsapparat mit
tausenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Diese müssen geschult und
angeleitet werden. Diese Mitarbeiter haben Urlaubsansprüche, werden krank und
anderes mehr. Die Aktenberge werden aber nicht kleiner. Richter und
Staatsanwälte sind so gut wie ihre Geschäftstellen arbeiten.
Den Gerichten und Staatsanwälten
stehen über 150.000 Rechtsanwälte gegenüber und warten auf Mandanten, ihre
„Geldgeber“. Der Konkurrenz-, Spezialisierungs- und der Erwartungsdruck sind
groß. Die potentiellen Mandanten werden immer mehr verwirrt durch
Gerichtsshows, amerikanische Gerichtsfilme sowie Polizeirufe, Tatorte und
kurzweilige Vorabendsendungen zu „spannenden Kriminalfällen“, die in der
Mehrzahl alle lebensfremd sind und unser Land als eine Hochburg von Räubern und
Mördern darstellen.
Die Sinne der Mandanten für
Gerichtsrealitäten, Gerechtigkeit und Gerichtsentscheidungen werden getrübt
durch subjektive, fehlerbehaftete oder sehr vereinfachte Berichterstattungen
durch Zeitungen und Fernsehen.
Ein weiteres Lieblingsfeld
sind die Gebühren. „Der Anwalt hat doch gar nichts gemacht, nur einen Brief
geschrieben.“ Bemerkungen von Mandanten wie diese füllen Abende und
Beschwerdeakten bei den Anwaltskammern. Jeder Anwalt unterliegt dem Druck, sich
möglichst gut darzustellen. Da geht schon mal ein Stück Kollegialität verloren.
Weniger Sachlichkeit, dafür mehr Show für den Mandanten. Bösartige
Schriftsätze, Unterstellungen und versteckte Drohungen erfreuen das Herz
manches Mandanten, dienen in der Sache indes herzlich wenig. Das Gericht wird
es schon richten. Mit geringen Gebührensätzen kann ein Rechtsanwalt aber nicht
leben, sich fortbilden, ordentliche Gehälter, Mieten, Bücher, Gebühren und
Software zahlen. Die jetzigen Gebührenregelungen sind für Mandanten - aber auch
z.B. für mich - nicht einfach, übersichtlich und nachvollziehbar.
Das war bisher nur eine sehr
verkürzte Aufzählung von Daten und Problemdarstellungen, die aber in der
Gesamtheit nicht nur für mich erschreckend sind. Ich habe bisher nur meine
„Sicht“ geschildert. Mir wird aber bei der Betrachtung der Zahlen, die alle
Veröffentlichungen des BMJ und im Internet abrufbar sind, klar, dass man so den
Anforderungen an eine ausgewogene, an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger
orientierte und von der Gesetzlichkeit gewollte Gesetzgebung und Rechtsprechung
nicht gerecht werden kann.
Der Rechtsstaat ist aus
meiner Sicht schlecht gerüstet, um den Anliegen der Bürger und Bürgerinnen
gerecht zu werden. Besetzte Planstellen bei den Gerichten sagen nichts zur
Qualität der Rechtsprechung aus. Am Beispiel der Bankenkrise wird deutlich, wie
die Betroffenen zusehen müssen, wie Gelder verschwinden, der Staat die Banken
rettet, aber der einfache Bürger mit seinen Verlusten auf der Strecke bleibt.
Der Staat sollte doch die Bürgerinnen und Bürger schützen. Mit der Fiktion des
„erwachsenen Bürgers“, der schon weiß was er tut, wenn er ein Bankgeschäft
abschließt, exkulpiert sich der Staat. Und die Gerichte machen mit.
Entscheidungen werden auf der Grundlage von Formalien, deren Einhaltung oder
deren Verstoß das Maß aller Dinge ist, getroffen. Wer liest denn, geschweige
denn versteht denn schon Fondsverträge? Banken sollen Geld verwalten und
möglichst vermehren. Tun sie es nicht, wird der Bürger zur Kasse gebeten. Das
Finanzamt, als Organ des Staates, interessiert das Innenverhältnis nicht.
Bürger zahle deine Steuerschulden, egal wo das Geld geblieben ist. Der Bürger
erwartet hier auch Schutz von den Gerichten.
Weder die Gerichte noch die
Staatsanwaltschaften und auch nicht die Rechtsanwälte sind unter den jetzigen
Bedingungen in der Lage, Ansprüchen an eine moderne Justiz, Rechtsprechung und
ein modernes Rechtswesen zu erfüllen. Punktuelle Erfolge sind zu wenig. Oft
hinken wir den Entwicklungen hinterher. Im Mittelpunkt der Betrachtungsweise
aller rechtlichen Prozesse (egal ob Gericht oder Gesetz) muss der Bürger stehen
und nicht die Verwaltung von Rechtsstreitigkeiten. Die Bürgerinnen und Bürger
müssen wissen, was sie erwartet oder was sie zu erwarten haben. Und sie
erwarten auch Schutz vor Betrügern, Spekulanten, Straftätern aller Art. Dazu
bedarf es aber gesellschaftlicher Anstrengungen. Ein Rechtsbewusstsein muss
entwickelt werden. Man darf das nicht einer bildhaften Zeitung überlassen.
Gerichte und
Staatsanwaltschaften müssen personell und materiell ausgerüstet werden, um den
Anforderungen gerecht werden zu können. Straftäter z.B. müssen wissen, dass die
Gerechtigkeit schnell ihren Lauf nimmt. Die streitenden Parteien müssen sich
darauf verlassen können, dass auch „Recht gesprochen“ wird. „Im Namen des
Volkes“ verkommt zur Worthülse. Die Amts-, Land- und Oberlandesgerichte mit
jeweils anderen Entscheidungen und Urteilen in der gleichen Sache oder die dann
durch den BGH oder das BVerfG ergangenen Entscheidungen laufen alle unter
dieser Formel. Wer spricht denn nun wirklich im „Namen des Volkes“. Amtsrichter
Adam oder der BGH?
Eine schon lange geforderte
Entbürokratisierung muss auch konsequent begonnen
werden. Und Politiker müssen
verstehen, dass das Recht, die Gesetze und die Rechtsprechung nicht nur eine
Sache der Gerichte und der Organe der Rechtspflege oder von Sachverständigen
sind. Der Ausgangspunkt allen Rechts war und ist ein parlamentarisches Votum.
Sorgfalt und Bedacht sollten Lobbyismus und Fraktionszwang vorgehen, denn der
Endpunkt aller Betrachtungen, der Maßstab von Gesetzen und Regelungen,
Rechtsprechung und Strafverfolgung – sind die Bürgerinnen und Bürger des
Staates.
Der Autor ist Rechtsanwalt
in Berlin