01.10.2005
Es gab nichts Kleingedrucktes
Friedrich Wolff über politische Prozesse, Delegitimierungen und Volksnähe 
 
In der DDR haben Sie SED-Kritiker, Oppositionelle verteidigt, nach 1990 Erich Honecker, Hans Modrow und den letzten HVA-Chef Werner Großmann. Sind Sie gern Anwalt von Verfolgten, Verlierern?
Ein Verteidiger hat es immer mit Verfolgten zu tun. Politisch Verfolgte verteidigen sich angenehmer.

Wieso?
Weil sie von der Persönlichkeit her anders sind als Kriminelle. Interessanter. Aber in mancher Beziehung auch komplizierter.

Wie viel Symphathie, wie viel Leidenschaft ist mit von der Partie?
Das ist eine Temperamentsfrage.

Wie sind Sie gepolt?
Ich gelte im Allgemeinen als ruhig und zurückhaltend. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht mit Herz für meine Mandanten eingetreten bin. Von Fall zu Fall kann das unterschiedlich sein. Mandanten verhalten sich auch unterschiedlich ihrem Anwalt gegenüber. Manche wollen ihre eigene Linie fahren, sich nicht der des Anwalts anschließen.

Das ist Ihnen passiert?
Im Fall von Oppositionellen, die links von der SED standen. Und für sie war ich nicht weit genug links.

Wie war das bei Walter Janka?
Janka habe ich mit Sympathie verteidigt, weil er ein Spanienkämpfer war, ein Mann von Mut und Überzeugung. Manchem Mandanten fühlt man sich besonders verbunden. Für einen habe ich vor einigen Jahren die Beerdigungsrede gehalten, weil er das gewünscht hatte: Herbert Krüger, ein Philosophiedozent, der mit Janka und Harich angeklagt war.

Sie konnten Ihre politischen Prozesse vor und nach 1990 nur verlieren. Kratzt das nicht am Ego?
Das ist die Natur des politischen Prozesses, in der Bundesrepublik nicht anders als in der DDR. Ich habe meistens meinen Mandanten vorher gesagt, sie müssen sich darauf einstellen, dass sie trotz meiner Verteidigung verurteilt werden.

Ihr erster Fall war eine Pflichtverteidigung. Die Anklage?
Es handelte sich um einen Westberliner, Mitglied der Jungliberalen, der irgendwie am 17. Juni 1953 aufgefallen ist, als Rädelsführer angeklagt und zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde. Ich hatte Freispruch beantragt. Seine Mutter hat mich dann auch in der 2. Instanz als Wahlverteidiger beauftragt.

Wenn Sie das Rechtssystem in der DDR und in der BRD vergleichen müssten – wie fällt Ihr Urteil aus? Welches war besser?
Diese Frage kann man nicht so einfach beantworten, weil das Rechtssystem eine Widerspiegelung des gesellschaftlichen Systems ist. Man kann in einem sozialistischen Gesellschaftssystem das Recht anders machen als in einem kapitalistischen. Für eine kapitalistische Gesellschaft ist das Rechtssystem der Bundesrepublik sicher gut, für eine sozialistische Gesellschaft ist es nicht tauglich.

Und war für eine sozialistische Gesellschaft das DDR-Recht gut?
Es zeichnete sich durch viele Dinge aus, die im bundesdeutschen System nicht vorhanden sind, zum Beispiel Übersichtlichkeit, Klarheit, Verständlichkeit, Volksnähe der Rechtsnorm. Man spricht heute von der Krise des Rechtsstaats, weil dieses Recht ausgeufert ist. Professor Gerhard Lüke in Marburg hat jüngst gesagt, seine größte Angst ist, den Vorlesungssaal zu betreten und nicht das neueste Gesetz zu kennen. Es ist nicht mehr zu übersehen, keiner blickt durch.

War das übersichtliche DDR-Recht dadurch mangelhaft, leichter missbräuchlich?
Nein, das hat damit nichts zu tun. Die Lebensverhältnisse waren einfacher. Deswegen konnte das Recht einfacher sein. Bei komplizierten Lebensverhältnissen wie in einem kapitalistischen Land braucht es ein kompliziertes Recht. Und dieses Recht hat die Tendenz, immer komplizierter zu werden. Das geht auf die Dauer nicht gut.

Was bedeutet das?
Wenn Autoren sagen, der Rechtsstaat macht eine Krise durch, kann es eben auch sein, dass er dieser erliegt, das heißt, etwas ganz anderes entsteht, was dann nicht mehr Rechtsstaat genannt werden kann.

Hätten Sie sich eine Vereinigung beider Rechtssysteme vorstellen können? Wäre etwas aus der DDR zu übernehmen gewesen?
Sicher. Zum Beispiel das Familienrecht. Was man jetzt hat, führt nur dazu, dass die Leute nicht mehr heiraten, weil die Scheidung so teuer und kompliziert ist, das keiner dieses Risiko eingehen will. Das war in der DDR ganz anders. Oder im Erbrecht: Wozu dieses Pflichtteilsrecht der Kinder – wenn ein Vater gar keinen Kontakt zu seinem unehelichen Kind hat? Das sind antiquierte Vorstellungen, die zeigen, dass der Gesetzgeber weit hinter der Entwicklung zurück ist. Oder im Falle von Fahrerflucht, wenn jemand ein Auto beim Einparken nur leicht tangiert, es vielleicht nicht bemerkt hat oder wegfährt weg, obgleich er es bemerkt hat – da gibt es ein großes Verfahren. Der Schaden ist klein, aber die Kosten des Verfahrens groß. Das gab es in der DDR nicht. Das Ganze ist ja auch systemwidrig, denn an sich gehört es zu den Selbstverständlichkeiten im Recht, dass niemand sich selbst beschuldigen muss.

Sie waren ein scharfer Kritiker der juristischen Vergangenheitsbewältigung. Wie hätte anders DDR-Unrecht geahndet werden können?
Es musste nicht geahndet werden. Diese Meinung teilen auch maßgebliche Autoren aus Westdeutschland. Professor Josef Isensee hat gewarnt, dass westdeutsche Ahnungslosigkeit Selbstgerechtigkeit und Pharisäertum zu einem neuen Besatzungstrauma der demokratisch minorisierten Ostdeutschen führen könnte. Und es gäbe keinen Grund für die Deutschen, die im sicheren Westen gelebt haben, sich zum Zensor der ostdeutschen Vergangenheit aufzuwerfen. Er war nicht der Einzige. Selbst Politiker von der CSU und CDU haben sich dagegen gewandt.
Im übrigen hat die Bundesregierung am 2. September 1956 in einem Memorandum zur Frage der Wiederherstellung der deutschen Einheit, das allen Siegermächten überreicht wurde, festgeschrieben: »Die Errichtung eines neuen Regierungssystems darf daher in keinem Teile Deutschlands zu einer politischen Verfolgung der Anhänger des alten Systems führen.« Die – nach Schaefgen – 300 Urteile gegen DDR-Bürger bis 1999 sind rechtsstaatlich nicht gerechtfertigt.

Welche Rechtsbrüche sehen Sie?
Zunächst hat man versucht, sich der Radbruchschen Formel zu bedienen, die eben hier nicht zutrifft. Das hat auch der führende Radbruch-Professor, Arthur Kaufmann, deutlich gesagt. Es erfolgten elementare Verletzungen nicht nur des Rückwirkungsverbots, sondern auch des Grundsatzes der Staatenimmunität, der Verletzung der Verjährungsvorschriften usw. Alles wurde beiseite geschoben, um diese 300 Menschen zu verurteilen und zu beweisen, dass die DDR ein Unrechtsstaat war. Das ist nicht gelungen. Rückwirkend und objektiv betrachtet war das Ergebnis nicht eine Delegitimierung der DDR, sondern eine Delegitimierung des bundesdeutschen Rechtsstaats.

Sie sind den DDR-Bürgern auch und vor allem durch die Fernsehserie »Alles, was Recht ist« bekannt. Unbekannt dürfte sein, dass Sie 1953 aus »kaderpolitischen Gründen« aus der Justizabteilung beim Berliner Magistrat entlassen wurden. Was war der Hintergrund?
Den hat man in der DDR nicht erfahren. Es könnten zwei Gründe gewesen sein: Meine Mutter lebte in Westberlin, ich war 1951 nach Ostberlin umgezogen. Das war eine kaderpolitische Belastung. Und zweitens: Ich war als Student aufmüpfig, hatte einen Resolutionsentwurf geschrieben, der als nicht sehr freundlich angesehen wurde.

Was haben Sie denn gefordert?
Dass man die führenden Genossen nicht so verherrlichen soll etc.

Antisemitische Tendenzen spielten keine Rolle?
Überhaupt nicht. Ich habe nie Antisemitismus von offizieller Seite in der DDR erlebt. Ich halte das alles für ausgesprochenen Unsinn, was da heute behauptet wird.

Was ist für Sie an der DDR erinnerungswürdig?
Da gibt es eine ganze Menge. Ich weiß nicht, was ich zuerst nennen soll. Vielleicht die Kinderfreundlichkeit der Gesellschaft. Auch dass Bildung unentgeltlich, für jeden zugänglich war. Und es nichts Kleingedrucktes gab, was dem Bürger gefährlich werden konnte.

Interview: Karlen Vesper


Der 1922 in Berlin geborene Arztsohn (l.) durfte in NS-Zeit als »Halbjude« nicht studieren; in der DDR saß er dem Rechtsanwaltskollegium vor