Aus:Junge Welt vom 19.04.2004

 

Gegen Geschichtslügen

 Ernst Thälmann zum Gedenken. Rede von Egon Krenz zum 118. Geburtstag des KPD-Vorsitzenden und Abgeordneten des Deutschen Reichstages

 Am gestrigen Sonntag sprach Egon Krenz, ehemaliger Staatsratsvorsitzender der DDR, vor mehr als 500 Zuhörerinnen und Zuhörern vor dem abgeriegelten Areal der Ernst-Thälmann-Gedenkstätte in Ziegenhals bei Berlin anläßlich der Wiederkehr von Thälmanns Geburtstag. Es war Krenz’ erster öffentlicher Auftritt seit seiner Haftentlassung im Dezember vergangenen Jahres. jW dokumentiert die Rede in ungekürzter Form.

Hier ein Auszug aus dieser Rede:

Verlogene Terrorismusdebatte

Es handelt sich ja bei den Vergleichen der DDR mit dem Faschismus nicht nur um Geschichtsfälschung. Es ist zugleich eine schamlose Verharmlosung der Naziverbrechen und eine Dämonisierung der Geschichte der DDR. Es ist eine unglaubliche Verhöhnung der Opfer der Nazibarbarei, die als Volksverhetzung verboten gehört.

Kürzlich wurde am Gebäude des Ministeriums für Staatsicherheit eine »Gedenktafel« angebracht, die wohl eher den Namen »Diffamierungstafel« verdient. Bei aller notwendigen kritischen Bewertung unserer Geschichte – ich versuche aktiv daran teilzunehmen – ist es völlig unakzeptabel, die DDR und ihr Ministerium für Staatssicherheit in die Nähe von Terrorismus zu bringen. Die DDR hat weder Terrorismus gefördert noch geduldet.

Sie hat ihre Bevölkerung aktiv vor terroristischen Anschlägen geschützt. Die DDR hat keine »Killer« bestellt und keine Morde in Auftrag gegeben. Unsere Sicherheitsorgane haben im Gegenteil erfolgreich dazu beigetragen, daß die DDR der einzige deutsche Staat blieb, der an keinem Krieg beteiligt war. Schon dadurch unterscheiden sie sich von jenen Geheimdiensten und Regierungen, die Dokumente fälschten, um Kriege gegen andere Völker zu führen.

Als die Bundesrepublik 1977 Ziel von Terroranschlägen war, nutzte die DDR ihre guten Beziehungen zur VR Jemen und zu Somalia und die Anwesenheit unserer Sicherheitsorgane in diesen Ländern, um die höchsten Repräsentanten Jemens und Somalias zu bitten, alles zu tun, damit die Passagiere in der Lufthansa-Maschine nicht zu Schaden kommen. Bundeskanzler Schmidt hat damals in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag der DDR ausdrücklich für die Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung gedankt. Dies ist heute vergessen, weil es nicht der Diffamierung der DDR dienen kann.

 

Hätten jene, die für ihre Gehässigkeiten gegen die DDR im Sold des Staates stehen, diese Tafel angebracht, wäre dies kein Grund zum Wundern gewesen. Die »Geschichtsaufarbeitung« erfolgt hierzulande regierungsamtlich und durch Beschlüsse des Bundestages mit dem Ziel, die DDR und ihre antifaschistische Vergangenheit zu delegitimieren. Daß aber Menschen mit gestandener DDR-Biographie und selbst frühere Funktionsträger der DDR mitgewirkt haben, wundert mich schon. Es wundert mich vor allem, daß sie bei dieser unwürdigen Tafel nicht ihre Eigenwürde verletzt sehen.

Haben wir nicht genug Fakten aus der deutschen Nachkriegsgeschichte, um auch Fragen an die alte Bundesrepublik zu stellen: Ging die Ohrfeige der Beate Klarsfeld für Kiesinger nicht ins Prinzipielle? Hat man die Mörder von Philipp Müller, dem jungen Gewerkschafter, der 1952 bei einer Friedensdemonstration in Essen ermordet wurde, verfolgt oder verurteilt? Wie starb Benno Ohnesorg, der eher unpolitische Student in Westberlin und wer bestrafte die Verantwortlichen? Wer stellte Politiker und Richter vor Gericht, die verfassungswidrig die KPD und die FDJ verboten?

 

Wir erlebten, wie die Rosenbergs, Patrice Lumumba, Martin Luther King, Salvador Allende oder Bischof Romero ermordet wurden wie Ernst Thälmann. Aus keinem anderen Grund als Antikommunismus. Und der mörderische Vietnamfeldzug, die gescheiterte Invasion in der Schweinebucht auf Kuba, alles aus denselben Gründen – Antikommunismus! Und immer wieder die alte Bundesrepublik, offen oder versteckt an der Seite der Invasoren und Diktatoren. Das ist meine Antwort an jene, die nicht müde werden, der DDR nur Unmenschlichkeit in die Wiege zu legen. Ich bin keineswegs unkritisch zu meiner Vergangenheit in der DDR oder wäge Unrecht gegen Unrecht ab. Doch eine gerechte und differenzierte Beurteilung der DDR wird nur möglich sein, wenn die gesamtdeutsche Nachkriegsgeschichte auf dem Prüfstand steht. Ich wende mich gegen jedes Pauschalurteil über die DDR – ob es nun positiv oder negativ ist.

 

»Sonderzone« Ostdeutschland

 

Ostdeutschland soll nun wieder »Zone« werden. So jedenfalls können wir es aus den Medien entnehmen. Dabei wird übersehen, daß dies schon Realität ist: Ostdeutschland ist besonderes Tarifgebiet. Ostdeutschland ist eine Sonderzone des Rechts. Für Ostdeutschland wurde das Rückwirkungsverbot aufgehoben. Eigens für Ostdeutschland wurde ein besonderes Rentenstrafrecht für »Staatsnahe« erfunden, es gibt keine Gleichheit der Deutschen, weder in der Beurteilung ihrer Geschichte noch bei ihren Lebensbedingungen. Die Arbeitslosigkeit und der Sozialabbau treffen hier die Bevölkerung am härtesten. Nun stellt ein Nachrichtenmagazin die Fakten auf den Kopf: Ökonomisch, so behauptet der Autor, wurde der »Westen im Zuge der Vereinigung zur Kolonie des Ostens«.

 

Wer so schreibt, negiert Fakten und urteilt ideologisch. Was jetzt in Deutschland passiert, kann man nicht dem Erbe der DDR anlasten, sondern ist Resultat der gescheiterten Vereinigungspolitik. Wenn über die hohe Transfersumme gesprochen wird, sind mir sehr wohl auch die Anstrengungen der Westdeutschen bewußt, die dahinter stehen. Doch, es darf nicht vergessen werden, daß die Treuhand den Osten Deutschlands deindustrialisiert hat. Der dadurch verschuldete Rückgang der Produktion ist von Einmaligkeit in der deutschen Geschichte. Nicht einmal infolge der beiden Weltkriege hat es einen solchen Rückgang der Industrieproduktion gegeben. 85 Prozent des DDR-Volksvermögens gelangte in die Hände des westdeutschen Kapitals. Und dies oftmals mit krimineller Energie. Wie die Preise dabei waren, erleben wir ja noch in der Gegenwart, wenn wir von Abfindungssummen für Manager oder Spesen für Bankdirektoren hören.

Bei der Vereinigung betrug das Volksvermögen der DDR 1,7 Billionen Mark der DDR. Nicht darin enthalten waren der Wert von vier Millionen Hektar Grund und Boden und der Wert von öffentlichen Gebäuden im In- und Ausland. Es bleibt mir ein Rätsel, wie aus dem Verkauf einer ganzen Volkswirtschaft nichts übriggeblieben sein soll als Schulden? Wer meint, der »Westen sei die Kolonie des Ostens«, sollte auch nicht vergessen, daß die DDR zu 98 Prozent die deutschen Reparationen an die Siegermächte leistete. Dafür hat sie von Bonn nie einen Ausgleich erhalten. Schließlich haben die DDR-Bürger leider auch die von ihnen nicht verursachte hohe Inlandsverschuldung der Bundesrepublik geerbt. Was jetzt in Politik und Medien geschieht, ist ein großangelegter Versuch, Ostdeutsche gegen Westdeutsche und Westdeutsche gegen Ostdeutsche aufzuhetzen. So einigt man Deutschland nie!

Thälmanns Geburtstag in diesem Jahr ist ein besonderes Datum. Vor 60 Jahren beging er seinen 58. Geburtstag. Es war bereits im zwölften Haftjahr. Und es sollte sein letzter sein. Die Nazis dachten sich für seine Familie eine besondere Grausamkeit aus: Auf dem Wege zum Besuch ihres Vaters wurde Irma Thälmann verhaftet. Kurze Zeit danach auch Rosa Thälmann. Sie wurden 1945 von sowjetischen Truppen befreit, als Thälmann bereits ermordet war. Wir ehren Thälmann, indem wir nach seinen Worten handeln: »Treu und fest, stark im Charakter und siegesbewußt im Handeln, so und nur so werden wir unser Schicksal meistern.«