Verändern Sie die Richtung Ihrer Politik!

 

Offener Brief von Bodo Ramelow, Bundeswahlkampfleiter der PDS, an Gerhard Schröder

 

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

5,2 Millionen Menschen sind im Februar 2005 als arbeitslos registriert. Mehr als je zuvor im Nachkriegsdeutschland.

Im Land des Exportweltmeisters arbeiten zudem immer mehr Menschen für Niedriglöhne, mit denen sie ihre Existenz nicht sichern können. Millionen Arbeitsplätze fehlen.

Die Massenarbeitslosigkeit hat Gründe, Herr Bundeskanzler, für die Sie die politische Verantwortung tragen. Gewiss, die Politik kann nur in beschränktem Umfang selbst Arbeitsplätze schaffen. Doch die Rahmenbedingungen und die Richtung des Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit werden von ihr, werden von Ihnen und Ihrer Regierung bestimmt.

Sie haben vor reichlich sechs Jahren am Beginn Ihrer Regierungszeit – damals waren 3.891.674 Menschen ohne Arbeit – erklärt, dass Sie Ihre Regierung daran messen lassen wollen, was sie für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit getan hat. Heute ist zu konstatieren, dass die Arbeitslosen bekämpft werden, während diejenigen, die die Arbeitslosen „produzieren“, auf weitere Steuerentlastungen hoffen können. Sie haben die angebotsorientierte Politik Ihres Vorgängers fortgesetzt. Angesichts der Zahlen aus dem „2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“ muss man wohl eher formulieren, auf die Spitze getrieben.

In Ihrer Regierungszeit, Herr Bundeskanzler, ist mit dem Reichtum das Armutsrisiko in Deutschland bis 2003 für Männer von 10,7 Prozent auf 12,6 Prozent gestiegen, für Frauen von 13,3 auf 14,4 und für Arbeitslose von 33,1 auf 40,9 Prozent. Die Arbeitslosigkeit ist so hoch wie nie zuvor in der Bundesrepublik. Menschen, die zwei oder mehr Jahre arbeitslos waren, weisen dem Bericht zufolge im Verhältnis zu durchgängig Beschäftigten ein 3,4-fach erhöhtes Sterberisiko auf.

In keinem anderen in den Pisa-Studien untersuchten Industrieland ist die Bildung der Einzelnen so abhängig von der sozialen Herkunft wie in der Bundesrepublik. Gravierend sind die Benachteiligungen von Arbeitslosen, von Frauen, von Kindern aus sozial schwächeren Schichten, von Alleinstehenden mit Kindern und Familien mit mehreren Kindern, von Migrantinnen und Migranten, von chronisch Kranken und Aids-Kranken.

Das Gesamtsteueraufkommen stieg von 1990 bis 2003 um 388,3 Milliarden DM. Davon entfielen 149,9 Milliarden auf die wachsenden Lohnsteuern und 121,4 Milliarden DM auf die vor allem von der erwerbsabhängigen Bevölkerungsmehrheit zu tragenden Umsatzsteuern. Aus diesen beiden Steuerarten resultieren 70 Prozent des Steueraufkommens.

Der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern am Steueraufkommen ist dagegen gesunken. 1977 machten Gewinn- und Vermögenssteuern noch 30 Prozent des Gesamtaufkommens aus. Das entsprach genau dem Anteil der Lohnsteuern. Im Jahr 2001 war der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuern auf knapp 15 Prozent abgesunken, der Anteil der Lohnsteuer auf 35 Prozent gestiegen.

Die Steuerreformen Ihrer Regierung, Herr Bundeskanzler, entlasten Durchschnittseinkommen von 30.000 Euro pro Jahr um 1.563 Euro. Einkommensmillionäre dagegen werden von 1998 bis 2005 um 102.500 Euro entlastet. Nennen Sie das gerecht?

4.000 Deutsche werden bei Merrill Lynch zu den weltweit 58.000 Superreichen mit einem Nettofinanzvermögen von mehr als 30 Millionen Dollar gezählt. Für diesen Club der Finanzreichsten wird mit einem jährlichen Reichtumszuwachs von sieben Prozent auf 40.000,7 Milliarden Dollar für 2008 gerechnet.

15.600 Deutsche verfügen über ein Nettofinanzvermögen von drei bis 30 Millionen Euro und 38.700 Personen in Deutschland über ein flüssiges Vermögen von 1,5 bis drei Millionen Euro. 755.000 Privatpersonen in der Bundesrepublik haben ein Finanzvermögen von mehr als einer Million Dollar oder rund 950.000 Euro. Auf sechs bis sieben Arbeitslose kommt in Deutschland ein Vermögensmillionär.

Reichtum ist Macht, und Superreichtum ist Macht par excellence. Um Missverständnissen zu begegnen, Herr Bundeskanzler: Meine Partei ist keine Partei der Gleichmacherei. Reichtum von Menschen, deren Leistung die Wohlfahrt des Gemeinwesens erhöht, ist gerechtfertigt. Reichtum ist aber Missbrauch, wo er als Herrschaft über Menschen wirkt, wenn er in privater Hand zu Lasten öffentlicher Daseinsvorsorge anschwillt, wenn der „wirkliche Reichtum“, die reiche Entfaltung menschlicher Persönlichkeit, vielfach unter die Räder des Profit- und Marktmechanismus gerät.

Da das Hauptinteresse der ökonomisch Mächtigen ihre globale Expansion ist, müssen eben die Lohn- und Sozialkosten auf dem Binnenmarkt und die Unternehmenssteuern gesenkt werden. Es ist mehr und mehr zur ersten Priorität Ihrer Politik geworden, in diesem Sinne die Standortbedingungen der „global agierenden“ Unternehmen permanent neu zu justieren. Die Verheißung lautet, dass mit der Standortstärkung die Teilhabe für alle käme.

Wie immer die Begründung, auf solche Weise, Herr Bundeskanzler, wird der Binnenmarkt begrenzt.

Das Wachstum wird wider alle deklarierten Absichten gedämpft. Die Arbeitslosigkeit schwillt an, und mit ihr schwindet jene Sicherheit für die Bevölkerung, die doch als zentrale Aufgabe der Sozialpolitik bezeichnet wird. Dieser Prozess vollzieht sich seit drei Jahrzehnten. „Dass es so weiter geht, ist die Katastrophe“, schrieb Walter Benjamin. Meinen Sie ernsthaft, dass immer höhere Dosen jener Medizin, die in den vergangenen Jahrzehnten bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit versagt hat, wirklich helfen?

Das Arbeitslosengeld II soll exemplarisch für das Prinzip des „Förderns und Forderns“ stehen, als Grundsicherung für Arbeit Suchende, die sie selbst, ihre Partner und Kinder unabhängig von staatlichen Leistungen machen könne. 331 oder 345 Euro plus Wohngeld und kaum ein Zuverdienst als „neue Teilhabe- und Verwirklichungschance“? Im Armuts- und Reichtumsbericht Ihrer Regierung heißt es über Partizipationschancen in Politik und Gesellschaft, „dass Personen aus einkommensschwachen Haushalten tendenziell in geringerem Maße politisch mitgestalten als Personen mit höheren Einkommen“.

Tendenziell, Herr Bundeskanzler? Der Satz ist verräterisch, wie viele in dem uns vorliegenden Bericht. Er verrät, wie sehr die sozialen Gräben, die quer durch unsere Gesellschaft gehen, und der politische Umgang damit in den milden Nebel der Unkenntlichkeit gehüllt werden sollen. Hat die Frau an Kasse 4 in einer Aldi-Filiale tatsächlich nur tendenziell weniger Einfluss als die Brüder Aldi mit ihrem Nettovermögen von 25 Milliarden Dollar?

Hartz IV ist nicht nur keine Weiterentwicklung des Sozialsystems, sondern ein radikaler Bruch mit dem bisherigen System. Es ist damit nicht mehr Ziel, dass sich gesellschaftliche Ungleichgewichte aufeinander zu bewegen und soziale Unterschiede ausgeglichen werden sollen.

Herr Bundeskanzler, Gerechtigkeit ist nicht das tatsächliche Maß Ihrer Politik. Das erkennen immer mehr Menschen. Die aktuellen Arbeitslosenzahlen, die immer deutlicher zu Tage tretenden Fehler der Hartz-Reformen und die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland, wie sie im 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zum Ausdruck kommt, sollten Ihnen Anlass genug sein, die Richtung Ihrer Politik zu verändern:

– schonungslose Kennzeichnung der sozialen Zerrissenheit unseres Landes und

der wachsenden Gerechtigkeitslücken in Deutschland;

– Offenlegung der Beziehungen zwischen Reichtum, Herrschaft und Demokratiedefiziten;

– kritische Überprüfung und Korrektur einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Binnennachfrage – die Masseneinkommen und öffentlichen Investitionen – derart schwächt, dass selbst die Exportkraft der Bundesrepublik das Anschwellen der Arbeitslosigkeit nicht

verhindern kann.

Gehen Sie ab von dem Irrtum, dass die von Ihnen eingeleiteten Reformen alternativlos sind. Die Ostdeutschen haben erlebt, dass die Beschwörung von Alternativlosigkeit in eine Sackgasse führt und das Ende von gestaltender Politik ist. Deutschland braucht weder eine ruhige Hand noch ein „Weiter so“. Deutschland braucht eine breite öffentliche Diskussion über mögliche Alternativen zur bisherigen Politik, über einen neuen Gesellschaftsvertrag für das 21. Jahrhundert.

(veröffentlicht am 1. März, an dem Tag, als die Bundesagentur für Arbeit die Zahl der registrierten Erwerbslosen für den Monat Februar mit 5,216 Millionen angab)