________________________________________________________
Dr. Friedrich Schorlemmer c/o Heinke Peters, Falkenstein 1,
22587 Hamburg
Vorsitzender des Vorstandes IFSH ‑
Tel. 040 866 077 10 ‑ Fax 040 866 36 15
Lutherstr. 17 e‑mail:
peters@ifsh.de
06886 Wittenberg
Erklärung
des Willy‑Brandt‑Kreises
zum
künftigen Umgang mit den Stasiakten
Mit Interesse verfolgt der
Willy-Brandt-Kreis die veränderte Zuständigkeit für die Stasi-Unterlagenbehörde.
Denn wir waren immer dafür, mit der einmaligen Chance, den umfangreichen
Aktenbestand eines repressiven Geheimdienstes öffentlich zu machen, sensibel umzugehen.
Pressehinweise, wonach künftig Hauptaufgabe der Behörde die Aufarbeitung der
DDR-Geschichte sein wird, erfüllen uns allerdings mit Sorge, da die Behörde mit
ihrer bisherigen Arbeit bewiesen hat, dass sie für diese Aufgabe ungeeignet
ist.
Die Behörde war von Anfang an nicht als neutrale wissenschaftliche Einrichtung angelegt sondern hatte eine politische Zweckbestimmung. Wie der damals zuständige Ministerialdirigent im Bundesinnenministerium erklärte, hatte der Sonderbeauftragte den Sonderauftrag, die DDR zu delegitimieren. Gleichzeitig waren alle geheimdienstlichen Erkenntnisse über die Bundesrepublik streng geheim, sie stehen der kritischen Aufarbeitung nicht zur Verfügung. Damit begann eine auf ostdeutsche Repressionsgeschichte eingeengte, selektive Geschichtsschreibung, die nicht nur Alltagsgeschichte ausblendete, sondern auch Forschungsvorhaben, die nicht die gewünschte Delegitimierung erbrachten, unter den Tisch fallen ließen. (So wird beispielsweise bis heute die Zahl der tatsächlich bespitzelten DDR-Bürger, die Opfer einer "operativen Personenkontrolle" wurden, geheim gehalten, weil mit ihr vermutlich das Bild von den flächendeckend kontrollierten Bürgern nicht aufrecht zu halten wäre.)
Emanzipatorische Elemente, wie
die Brechung des Bildungsprivilegs in der DDR oder das Selbstbewusstsein von
Produktionsarbeitern wurden genauso ausgeblendet wie Aspekte der
bundesdeutschen Repressionsgeschichte. Mit ihrer Reproduktion von staatlich
beaufsichtigter Geschichtswissenschaft hat die Behörde von Anfang an auch zu
Fehlurteilen und Legendenbildungen beigetragen.
Wenn
heute in Westdeutschland und im Ausland das Bild der DDR als das eines reinen Unrechtsstaates
vorherrscht, in dem alle Bürger entweder bei der Stasi gearbeitet haben oder
von ihr beobachtet wurden, bei jeder missliebigen politischen Äußerung im
Gefängnis landeten und nur unter Lebensgefahr das Land verlassen konnten, so
hat die Behörde ihren Auftrag erfüllt. Wer weiß schon, dass in den Jahren der
Mauer nach Angaben des Bundesinnenministeriums - größtenteils unter schikanösen
Bedingungen - 429 815 Ausreiseanträge genehmigt wurden, die 33 775
herausgekauften Häftlinge nicht mitgerechnet.
Immer wieder hat die Behörde
"Personen der Zeitgeschichte" demontiert, die sich dem herrschenden
Zeitgeist nicht gebeugt haben, während einstige IM, die sich jetzt opportun
äußern, in Ruhe gelassen wurden. Dieser von der Behörde ausgeübte politische
Anpassungsdruck lag nicht im Interesse von Demokratie. Laut Auskunft von
Joachim Gauck haben 98 Prozent der DDR-Bürger nie für die Staatssicherheit
gearbeitet. Dennoch haben nur 2,6 Prozent derselben Bevölkerung volles Vertrauen zu der Behörde, die
absolute Mehrheit hat überhaupt kein,
sehr wenig oder etwas Vertrauen,
wie das Sozialwissenschaftliche Forschungszentrum BerlinBrandenburg ermittelt
hat.
Die Behauptung der Behörde,
"der Geheimdienst hatte jeden Aspekt des Lebens durchdrungen", geht
an der Erinnerung der meisten Menschen vorbei, erzeugt Überdruss, Abwehr und
Trotz. So förderte die Behörde durch ihre ideologische Übertreibung gerade das,
was sie vermeiden sollte, nämlich DDR-Nostalgie.
Akten eines Geheimdienstes
sind jeweils interpretationsbedürftig und können nur eine Quelle unter anderen sein, zumal nach eigenem Bekunden der
Stasi wichtige Unterlagen vernichtet worden sind. Sie enthalten niemals alle
Daten über eine Gesellschaft. Nur wenn sie ergänzt werden durch Erkenntnisse
aus den Archiven des Partei- und Staatsapparates, der Kirchen, Akademien,
Verbände und Medien, der Eingaben und Leserbriefe, durch Befragungen von
Augenzeugen und Forschungen über die Alltagsgeschichte, kann ein annähernd
realistisches Bild entstehen.
Wir
brauchen eine differenzierte Aufarbeitung von Geschichte, die auch die
westdeutsche Parallelgeschichte nicht ausblenden darf, weil sich nur in der
Gesamtsicht Aktionen und Reaktionen erklären lassen. Wir befürworten die
zukünftige Überführung des Aktenbestandes unter die Obhut des Bundesarchivs,
das eine hohe Gewähr für einen sachgemäßen Umgang mit diesen Unterlagen bietet.
Es ist selbstverständlich, dass ein geregelter Zugang für Betroffene und
Historiker weiterhin möglich sein muss.
Berlin,
den 17. Februar 2005
Für den Willy-Brandt-Kreis:
Egon Bahr, Peter Bender, Peter Brandt, Daniela Dahn, Friedrich Dieckmann,
Hans J. Gießmann, Günter Grass, Ingomar Hauchler, Christine Hohmann‑Dennhardt,
Hans Misselwitz, Irina Mohr, Oskar Negt, Claus Noé, Edelbert Richter, Michael
Schaaf, Axel Schmidt‑Gödelitz, Friedrich Schorlemmer, Manfred Uschner.