Daniela
Dahn:
Gehalten am 3. Oktober 2003 in Ingolstadt.
Meine
Damen und Herren, liebe Ingolstädter!
Ein
festlicher Anlaß führt uns zusammen, ein froher, denn heute vor 13 Jahren
wurden aus den zwei deutschen Staaten wieder einer. Ist die 13 eine Glückszahl?
Beginnen wir nicht mit der Krisenstimmung, in der sich das vereinte Land,
vielleicht mit Ausnahme von Bayern befindet, richten wir unsere Aufmerksamkeit
zur Feier des Tages zunächst auf die Erfreulichkeiten.
Vor
sechs Wochen fand unter der Schirmherrschaft von Michael Gorbatschow in Bonn
eine Tagung der Aktion „Grünes Band“ statt. So nämlich heißt heute der Streifen
Land entlang der einstigen innerdeutschen Grenze, den sein spezielles,
abstoßendes Schicksal immerhin 40 Jahre der Kommerzialisierung entzogen hat und
der sich heute als Perlenkette wertvoller Biotope erweist. Von der Ostsee bei
Travemünde bis zum einstigen Dreiländereck bei Hof ziehen sich in einer Länge
von 1400 Kilometern urwaldähnliche Landschaften, Heiden, Moore, Auen und
Almen. Seltene Tiere wie Braunkehlchen und Rotbauchunken, Fischotter und
Seeadler fühlen sich da heimisch. Womit ich nicht andeuten will, daß sich die
Tiere schneller als wir in der Einheit zurechtgefunden haben, sondern nur, daß
alles seine zwei Seiten hat.
Übrigens
blicken auch die Umweltschützer Europas mit Respekt auf dieses längste Biotop
des Kontinents und versuchen, bei der Öffnung weiterer europäischer Grenzen
ebenfalls Grüne Bänder unter Naturschutz zu stellen. Diese Art Beispielwirkung
können wir uns gefallen lassen – denn hier wächst tatsächlich zusammen, was
zusammengehört. Natürlich gibt es inzwischen auch im übertragenen Sinne eine
Menge gemeinsamer Ost-West-Biotope auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem
oder kulturellem Gebiet. Wo Menschen in gemeinsamen Projekten gemeinsame Ziele
und Interessen vertreten, ergeben sich fast immer konstruktive Kontakte, die
einen auch menschlich näher bringen.
Schließlich
bin auch ich nach der Wende in einem großen Westverlag gelandet - so gesehen
stehe ich als Gewinnlerin der Einheit vor Ihnen. Und gelegentlich mache ich mir
immer noch bewußt, daß der Umstand überhaupt hier zu stehen, während Sie dort
sitzen und mehr oder weniger freiwillig zuhören, vor 13 Jahren alles
andere als selbstverständlich gewesen wäre. Vergessen wir bei der Besinnung auf
die Erfreulichkeiten nicht, daß wir einfach eine Menge Normalität gewonnen
haben.
Zu
dieser Normalität gehört inzwischen auch, daß in Ostdeutschland neuere Autos
gefahren werden als im Westen. Weil der Nachholbedarf größer war und die
Kredite verlockend. Zu den beliebten Marken gehört durchaus Audi. Insofern ist
es wohl nicht übertrieben zu behaupten, auch die Ingolstädter haben durch die
staatliche Einheit nicht nur Nachteile. Ein paar Tausend Arbeitsplätze sind
wohl dazugekommen. Unmittelbar vor meiner Abreise hierher bekam mein Nachbar
Post aus Ingolstadt, den neuen Katalog – ich bin also im Bilde.
Zu
der Generation gehörig, die bereits im staatlich geteilten Land geboren und
aufgewachsen ist, habe ich den Wert des Ganzen bis vor 13 Jahren nie leben
können. Wie viele von Ihnen auch nicht. Den Unwert erlebte ich schon. Eine
Großmutter im Westen, eine im Osten, die Mauer fast vor der Haustür, ging der
Riß quer durch Kinderwünsche. Aber schon früh war klar: dies ist nicht nur der
Riß durch eine Familie oder ein Land – dies ist der Riß durch die Welt.
Im
Februar 1961 fuhr meine Mutter mit meiner Schwester und mir in den Ferien
nach Oberbayern, wo ihre Verwandten als Flüchtlinge aus Schlesien in einer
Kleinstadt hängengeblieben waren. Von einer kleinen Entschädigung hatten sie
einen bescheidenen Passagen-Laden eingerichtet, aber in den Gesprächen ging es
oft ums Sparen. Erst nach einer Woche Skifahren in der schönen Alpenlandschaft
erfuhren wir Kinder von der Ehekrise meiner Eltern, die eine Rückkehr vorerst
nicht möglich machte. Und obwohl wir viele Annehmlichkeiten des Urlaubs
genossen hatten, wozu auch meine Vorliebe für Gummibärchen gehörte, überwog das
Heimweh. Mit elf Jahren wohl normal. Ich heulte drei Tage, dann wurde ich in
die 5. Klasse eines Realgymnasiums eingeschult. Vieles war mir schon
damals ungeheuer fremd. Warum gab es nur Mädchen auf dieser Schule? Auch die
Gedichte verstand ich nicht. Zum Beispiel das mit dem Riesenfräulein, der Bauer
war in der LPG sowieso kein Spielzeug, da brauchte kein Gott davor zu sein.
Die
Hauptsorge meiner Mitschülerinnen schien darin zu bestehen, ob beim Beten vor
dem Unterricht nun die Katholischen oder die Evangelischen an der Reihe seinen.
Eine betende Klasse war ein totales Novum für mich. So wie mein nachgeschicktes
Russisch-Lehrbuch für die bayrischen Mädchen. Sie gingen davon aus, daß man in
der DDR nicht deutsch sprechen dürfe und fragten mich, ob ich Chruschtschow
schon oft begegnet sei. Stell dir vor, der erste Mensch umkreist die Erde im
Kosmos und deine Mitschülerinnen freuen sich nicht. Jeder Erklärungsversuch
vertiefte die Fremdheit. Zum Beispiel meine Antwort auf die Frage, weshalb ich
als einzige jeden Morgen tiefbewegt mein Milchgeld dem einbeinigen Mann gab,
der vor dem Gymnasium saß. Er war einfach der erste Bettler, den ich je gesehen
habe. Ich hatte keine Ahnung, wo sich in der DDR die Kriegsinvaliden aufhielten
– jedenfalls nicht vor meiner Schule.
Machen
wir uns nichts vor, die unterschiedlichen Prägungen haben sehr früh begonnen.
Meine Schwester und ich waren jedenfalls froh, als sich im Sommer die private
Krise gelegt hatte und wir nach Ostberlin zurückkehrten. Am Sonntag nach
unserer Ankunft erreichte uns die Nachricht vom Bau der Mauer. Zu dem Schreck
und der diffusen Ahnung, was für einschneidende Begrenzungen unser Leben
erfahren würde, mischte sich bei mir aber auch Erleichterung: Da kann mich
keiner mehr hinschicken! So untypisch kann das Leben sein.
Sie
können immerhin davon ausgehen, daß ich bayrisch ganz gut verstehe. Umgekehrt
hörte ich, daß nach dem Krieg in Ingolstadt Sächsisch die verbreitetste
Fremdsprache gewesen sei. Weil in diesem nicht mehr benötigten
Garnisionsstandort sich die neue Auto Union niederließ, während die
ursprünglichen Werke in Chemnitz, Zschopau und Zwickau von der Sowjetunion als
Reparationsleistung komplett demontiert wurden. Da war es den enthusiastischen
sächsischen Autobauern nicht zu verdenken, wenn sie sich mitsamt den
Konstruktions-unterlagen nach Ingolstadt absetzten. Ihre schöne Stadt hat – und
das sage ich ganz neidlos – zweimal Glück gehabt: Sie hat von der Teilung
profitiert und auch von der Vereinigung.
Ich
bin noch bei dem Wert des Ganzen. Jahre nach Gründung der beiden deutschen
Staaten wurde die Bezeichnung Deutschland in der DDR kommentarlos aus den Namen
öffentlicher Einrichtungen und Organisationen getilgt. Nicht, daß der Begriff
mich je gestört hätte, aber sein Verschwinden störte mich ebensowenig, er
interessierte mich nicht. Als Nachkriegskind verbanden sich für mich mit ihm
eher Gefühle des Verlustes als des Gewinns. Gut, der Rhein wäre eine Bereicherung
des Erfahrbaren gewesen, aber nicht mehr als die Seine oder der Mississippi.
Die wirklich schöne Ingolstädter Donau blieb uns verwehrt, was uns nicht davon
abhielt, sie in Budapest zu bewundern. Und Sie wiederum kennen die Moldau
vermutlich besser aus der Musik und die Wolga aus dem Fernsehen ...
Die
Deutsche Klassik war für mich der Teil der Weltliteratur, der glücklicherweise
in meiner Sprache verfaßt war. Sicher, ich liebte die Brüder Mann und
Feuchtwanger und Brecht, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, daß diese
Autoren mir näher gewesen wären als Dostojewski oder Camus. Die Welt war absurd
und imponieren konnte am besten, wer sie als solche beschrieb. Kafka – auch nur
bedingt ein Deutscher. Und Beckett nicht mal das.
Die
DDR mit ihrer Provinzialität und Enge konnte selbstverständlich auch nicht die
Endstation Sehnsucht sein. Aber sie war Teil einer Dimension, die durchaus
aufregend war – Osteuropa, der großangelegte Versuch, einer alternativen
Antwort auf die soziale Frage. „Sozialismus und Kapitalismus, die beiden genial
mißratenen Kinder der Aufklärung“, wie Günter Grass sie unlängst nannte,
okkupierten Bindungskräfte meiner Generation auf beiden Seiten. Sie waren
genial, weil es beiden gelungen war, wenigsten eines der großen Ideale der
Aufklärung weitgehend zu gewährleisten – der eine Gleichheit, der andere
Freiheit. Sie sind mißraten, weil beide nicht wahrhaben wollten und wollen, daß
das eine ohne das andere seinen Wert verliert.
In
der DDR hat die Unterdrückung beinahe aller alternativen und kreativen Ansätze,
die Verfolgung Andersdenkender und die allgemeine Gängelung und Bevormundung
schließlich zu einer so spürbaren Beeinträchtigung durchaus vorhandener
Leistungspotenzen geführt, daß die Menschen den permanenten Mangel an Waren und
an Glaubwürdigkeit satt hatten. Ihre weitgehende soziale Gleichheit in Form von
Existenzsicherheit war da kein hinreichender Trost mehr. Nicht umsonst habe ich
meinen Beruf als Fernsehjournalistin neun Jahre vor der Einheit an den Nagel
gehängt und statt dessen das Leben in der DDR in Büchern und Hörspielen
beschrieben, die meist gleichzeitig im Westen erschienen und auch nach der
Wende noch Bestand hatten.
So
war es kein Zufall, daß ich im Herbst 89 Gründungsmitglied der
Bürgerbewegung „Demokratischer Aufbruch“ wurde. Da ich meine Erfahrungen aus
jener Zeit wiederum in Büchern festgehalten habe, sind mir die damaligen
Hoffnungen noch sehr gegenwärtig. Es würde vielleicht unserem feierlichen
Einvernehmnis entgegenkommen, wenn ich auch den Rest meiner kurzen Redezeit
nicht dafür verschwenden würde, auf die Diskrepanz von damaligen Erwartungen in
Ost und West und heutiger Realität zu verweisen, sondern bei den Errungenschaften
der letzten Jahre bleibe.
So
etwa bei den frischen Farben, denen das einstige Grau in vielen östlichen
Städten und Dörfern gewichen ist. Fast drei Viertel des Wohnungsbestandes sind
seit der Einheit modernisiert worden. In den ersten drei Jahren wurden soviel
Ein- und Zweifamilienhäuser gebaut wie in der DDR in zwanzig Jahren. Dabei
wurden doppelt so viel staatliche Zuschüsse für die private Wohneigentumsbildung
ausgegeben wie für sozialen Wohnungsbau und Wohngeld. Allerdings ist dies auch
eine der Ursachen für den deprimierenden Wohnungsleerstand. Und bei all den
neuen Konsumpalästen, Bankfilialen, Villen und Wellness-Bädern sollte man
gelegentlich fragen, wer hier Hausherr und wer Hausmeister ist.
Wenn
Sie sich schon zur Festrede eine Autorin einladen, die durch eine kritische
Sicht auf den Weg der Einheit aufgefallen ist, empfinde ich es als ein Gebot
des Respekts, Ihnen gerade an einem Tag wie heute Problematisches nicht
vorzuenthalten. Das ist eben nicht Larmoyanz, sondern Ausdruck gegenseitigen
Ernstnehmens. Nur wer die Lage und die Meinung seines Gegenüber kennt kann ihn
verstehen, was auch heißt sachkundig widersprechen oder hilfreiche Vorschläge
machen.
Wer
nie versucht hat sich einzumischen, soll nicht behaupten es ginge nicht. Sich
schreibend einmischen, heißt stören. Wer zufrieden ist, schreibt nicht.
Schreiben heißt abweichen und rebellieren, attackieren und ironisieren.
Schriftsteller sind nicht dazu da, Harmoniebedürfnisse zu erfüllen. Sie müssen
auch keine Hoffnungen machen und Lösungen anbieten. Dafür haben wir ja
Politiker. Schriftsteller sollten auf ihre Art das Problembewußtsein schärfen
und die Sensibilität füreinander wachhalten. Nur wer so gezielt zuspitzt, daß
er einen empfindlichen Nerv trifft, wird überhaupt gehört. Und muß dann selbst
mit Angriffen rechnen.
Ich
erinnere mich gut, welche große Erwartungen viele DDR-Bürger in die Demokratie
gesetzt haben. Zu den wichtigsten Forderungen aus der Wendezeit gehörte das
Recht auf freie Wahlen. Bei den letzten Kommunalwahlen in Thüringen betrug die
Wahlbeteiligung 45 Prozent. Der Selbstentmachtung der Politiker folgt
zwangsläufig die Selbstentmachtung der Wähler. Dieses Verhalten ist
enttäuschend. Man kann es kritisieren, aber hilfreicher ist wohl, es erklären
zu wollen.
Nach
13 Jahren Einheit ist die Bilanz durchaus widersprüchlich. Die gute Hälfte
der Befragten Ostdeutschen, darunter viele Rentner, gibt an, ihre persönliche
materielle Situation habe sich im Vergleich zur DDR verbessert. Das bezieht
sich vor allem auf den Wohnkomfort, auf Konsum- und Reisemöglichkeiten. Für
westliche Beobachter merkwürdigerweise stieg aber das Wohlwollen gegenüber
Politik und Gesellschaft nicht proportional. Das heißt, wachsender Wohlstand
zieht im Osten nicht unbedingt wachsendes Wohlbefinden nach sich. Um meiner
Glaubwürdigkeit vor Ihnen Nachdruck zu verleihen, stammen alle Zahlenangaben
aus westlichen Quellen. So entnehme ich dem Schulbuch meiner Tochter, daß mit
der Demokratie in Deutschland im Westen 73% eher zufrieden sind, im Osten nur
48%. Dies ist jedoch keine generelle Demokratiefeindlichkeit und Ablehnung
marktwirtschaftlicher Steuerung, sondern eine Kritik daran, wie marktradikal
und lobbyistisch das System im Osten übertragen wurde.
Es
gibt Fehler, die sind so gravierend, daß sie irreparabel sind. Dazu gehört das
Anzetteln von Eroberungskriegen – das muß man hierzulande nicht erklären. Nach
dem ersten Weltkrieg sank die Industrieproduktion Deutschlands auf
60 Prozent. Nach dem zweiten Weltkrieg sank sie auf 40 Prozent. Auf
30 Prozent sank die Industrieproduktion Ostdeutschlands nach dem Beitritt.
Alle Fachleute hatten dies vorausgesagt. Der Bundesrat machte seine Zustimmung
zum Vertrag über die Währungsunion in einer nie an die Öffentlichkeit gelangten
Entschließung davon abhängig, daß es unverzüglich zu Neuverhandlungen kommt,
„sobald sich zeigt, daß die DDR auf Dauer zum wirtschaftlichen Notstandsgebiet
zu werden droht“. (Bundestagsprotokoll, II Wahlperiode, S. 17574) „Die
Wirkung der Währungsunion zu den Bedingungen von Kanzler Kohl war vergleichbar
mit einer ökonomischen Atombombe“, konstatierte der Wirtschaftskolumnist des
Guardian knapp ein Jahr später. (April 1991) Doch statt nachzuverhandeln,
kam die Schocktherapie der Treuen Hand hinzu, die 95 Prozent des
Volkseigentums in westliche Hände übergab. Die Ostdeutschen sind heute die
Bevölkerung in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie
lebt. Immobilien, Betriebe und Bodenreformland wurden unter Konditionen
verkauft, von denen die einstigen DDR-Bürger weitgehend ausgeschlossen waren.
Egon Bahr hat darauf hingewiesen, daß in Ostdeutschland feudale,
frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen wurden, wie sie selbst in
Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden worden sind. Die politische
Vereinigung Deutschlands hat die ökonomische Spaltung auf gewissen Gebieten
vertieft.
Das
Problem ist beileibe nicht, daß der Osten noch nicht den Wohlstand des Westens
erreicht hat. Der soeben erschienene Jahresbericht der Bundesregierung zum
Stand der Deutschen Einheit weist für die neuen Länder ein Bruttoinlandprodukt
aus, das immer noch unter dem liegt, das selbst die marode DDR am Ende zustande
gebracht hatte. Oder aus der Sicht (des 19. Berichts) des Deutschen
Instituts für Wirtschaftsforschung beschrieben: Die Einfuhren nach
Ostdeutschland übertreffen die Ausfuhren auf dramatische Weise. Das jährliche
Leistungsbilanzdefizit betrug in den letzten Jahren jeweils 200 Milliarden
Mark. Diese gigantische Summe bedeutet, daß im Beitrittsgebiet jeden Tag
Leistungen von etwa 600 Millionen Mark angefordert werden, die durch eigene
Wirtschaftskraft nicht gedeckt sind. Anders ausgedrückt: Rund ein Drittel des
Verbrauchs in den neuen Ländern wird von draußen finanziert – eine zu
DDR-Zeiten undenkbare Disproportion. Es ist freilich ein Bankrott auf hohem
Niveau: Unsere Telekommunikation ist auf dem neusten Stand und die meisten
Straßen sind ausgebaut. Aber all die schöne Infrastruktur erfüllt hauptsächlich
den Zweck, westliche Waren ins Beitrittsgebiet zu karren. Märkte schaffen ohne
Waffen.
Das
Grundmißverständnis zwischen Ost und West besteht darin, daß eine Seite denkt,
sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. –
Spätestens hier glaube ich Ihre nicht unberechtigte Frage zu hören, ob die
Ostdeutschen angesichts der enormen Transferzahlungen, von denen man in den
anderen Osteuropäischen Ländern nur träumt, nicht auch etwas zufriedener, oder
klarer gesagt, dankbarer sein könnten?
Das
ist ein sehr sensibler Punkt. Natürlich entgeht vielen Ostdeutschen nicht,
welchen enormen Belastungen inzwischen nicht nur die Städte und Gemeinden in
den alten Bundesländern unterworfen sind. Da die Kosten der gegen jede
ökonomische Vernunft organisierten Einheit leider nicht durch einen
Lastenausgleich aufgebracht wurden, sondern weitgehend den Sozialsystemen aufgebürdet
wurden, kann gar nicht übersehen werden, daß auch jeder von Ihnen von dieser
und jener Agenda empfindlich zur Kasse gebeten wird. „Unser soziales System
steht wirklich auf der Kippe“, hat Exbundespräsident Herzog gerade gesagt. Daß
sich inzwischen herumgesprochen hat, daß auch die Ostdeutschen den
Solidaritätsbeitrag zahlen, macht die Sache nicht besser. Soweit ich es
beurteilen kann, sieht man im Osten die westlichen Leistungen mit Respekt und
Mitgefühl. Und mit dem unbehaglichen Wissen darum, daß die DDR-Wirtschaft am
Ende verschlissen war. Sie war krank, aber nicht tot.
Die
gesamten Auslandsschulden betrugen etwa ein Viertel dessen, was jetzt jährlich
an Transfergeldern nötig ist. Für mein Buch „Wem gehört der Osten“ habe ich den
zurückgetretenen Bundesbankpräsidenten Karl-Otto Pöhl und andere Kapazitäten
ausführlich zur Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft und Währung befragt –
darauf einzugehen fehlt jetzt die Zeit. Unterstellt, die industrielle Ausrüstung
sei ein einziger Schrotthaufen gewesen, bliebe die Frage wie man mit einem
Schrotthaufen 1989 immerhin noch ein Bruttosozialprodukt von
354 Milliarden Mark (Statistisches Jahrbuch der DDR von 1990)
erwirtschaften konnte. Angenommen es war ein Schrotthaufen, was nicht stimmt,
aber bleiben wir dabei – so konnten doch die Immobilien und der schuldenfreie
Grund und Boden und vor allem die mitgebrachten, enormen Absatzmärkte in
Osteuropa und Asien nicht wertlos sein. Die sind nämlich nicht weggebrochen,
wie behaupten wird, sondern weggenommen. Schon nach kurzer Zeit haben westliche
Unternehmen diese langjährigen Kunden der DDR in vollem Umfang beliefert.
Ein
Zufall war es nicht, daß zwischen 1989 und 1992 die Zahl der
Einkommensmillionäre in den alten Bundesländern um beinahe 40 Prozent
zugenommen hat. Wir heute hier Zusammengekommenen sind da nicht dabei – da bin
ich mir ziemlich sicher. Ein Zufall war es auch nicht, daß 1990 das Beste
Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer hundertjährigen Geschichte war. Im
Spiegel (10/94 S. 55) konnte man dazu lesen:
„Für westliche Geldhändler hat es einen dickeren Fang wohl
nie gegeben: Das komplette Bankensystem eines ganzen Staates, rund 80
Milliarden Mark Spareinlagen und die Schulden auf der anderen Bilanzseite, war
im Supermarkt der deutschen Einheit billig zu haben. Fast alle bedeutenden
Kreditinstitute griffen zu.“
Wenn
man bedenkt, daß Kredite in der DDR für einen Zinssatz zwischen 2 und
5 Prozent vergeben wurden, die neuen Geldeigner aber für diese, von ihnen
selbst nie vergebenen Kredite plötzlichen einen Zinssatz von 10 und mehr
Prozent forderten, und so allein zwischen 1991 und 1996 einen Zusatzgewinn von
ca. 100 Milliarden D-Mark erzielten, so muß man sich schon fragen, weshalb
nicht auch die Banken einen kleinen Solidarbeitrag zu zahlen haben ...
Die
selbe Frage wäre bei fast allen Treuhandgeschäften angebracht. „In Wahrheit
waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche,
das es je gegeben hat.“ Sage nicht ich, sondern Henning Voscherau
(4. 12. 96 in der Welt), damals Hamburgs Regierender Bürgermeister.
Für Westdeutsche sagt er, nicht für alle Westdeutsche. Für einige würde ich
denken. Eher einige wenige.
Das
statistische Bundesamt veranschlagt den „Vereinigungsgewinn“ für Westdeutschland
auf rund 200 Milliarden D-Mark pro Jahr. Weit mehr also, als der
Bruttotransfer in die entgegengesetzte Richtung, der den Ostdeutschen ständig
vorgerechnet wird. Verstehen Sie jetzt, weshalb ich bei der Frage nach der
Dankbarkeit erst immer genau wissen will: Wem? Wofür?
(Ihnen,
allein dafür mir weiter zuzuhören, gebührt sie auf jeden Fall!)
Einen
Vereinigungsprozeß, der gerecht verlief, hat es in der Geschichte allerdings
noch nie gegeben. Der Zusammenschluß verschieden starker Partner ist immer die
Stunde der Lobbyisten. Wenn etwas Warmes und etwas Kaltes zusammenfließen, dann
wird das Warme kälter und das Kalte wärmer. So ist die Natur. Wenn sich Reich
und Arm vereinen, dann wird das Reiche reicher und das Arme ärmer. So ist der
Mensch.
Als
sich die reichen Nordstaaten Amerikas nach dem gewonnenen Bürgerkrieg 1865
entschlossen, den armen Süden aufzubauen, nahm in einem Jahrzehnt der Wohlstand
des Nordens um weitere 50 Prozent zu, während der Lebensstandard im Süden
um weitere 60 Prozent sank. So ist das Geld. Das hätte man wissen können.
Gestatten
Sie mir ein kleines Gedankenspiel: Ich bin aufgewachsen im Süden von Berlin, wo
rund um Teltow im Laufe der Jahre große Volkseigene Betriebe gebaut wurden.
Erst ein Geräte- und Reglerwerk, dann ein Kombinat für Elektronische
Bauelemente, schließlich ein Halbleiterwerk. Mitte der achtziger Jahre habe ich
in einem Originalton-Hörspiel die Geschichte einer jungen Facharbeiterin von
dort erzählt, deren Arbeit, das Gold-Bedampfen von elektronischen Chips, durch
einen Automaten wegrationalisiert wurde. Selbstverständlich bekam sie einen
anderen Arbeitsplatz im Betrieb zugewiesen. Diese Tätigkeit war aber monoton,
etwas für Ungelernte. Daraufhin ging sie wütend zur Gewerkschaft und sagte dort
dasselbe, wie in mein Mikrofon: Ich bin ein Facharbeiter und kein Spielzeug und
wenn ihr mir keine Arbeit geben könnt, die mir Spaß macht, dann werde ich wohl
kündigen müssen. Das war eine handfeste Drohung, denn die Fluktuation im ganzen
Land war hoch, und jeder Abteilungsleiter bekam großen Ärger, wenn wieder einer
seiner Werktätigen aus Unzufriedenheit den Betrieb verlassen wollte. Das klingt
heute wie eine Geschichte von einem anderen Stern.
Der
Umstand, daß die Produkte dieser Region bis zur Währungsunion in über 30 Länder
exportiert wurden, allerdings auch. Von den 18 000 Industriearbeitsplätzen
sind danach einige hundert übrig geblieben. Mitte der neunziger Jahre schrieb
ich die Geschichte einer Ingenieurin für wissenschaftlichen Gerätebau auf. Nach
der Wende wird ihr Betriebsteil des 6000 Leute beschäftigenden Geräte- und
Reglerwerkes von einer Firma aus Texas übernommen. Die steckt alle Fördermittel
ein, baut dann aber, bis auf eine GmbH mit 32 Mitarbeitern, alle
Arbeitsplätze ab. Die Ingenieurin, die als „Persönlichkeit mit einem hohen Maß
an sozialer Orientierung“ gilt, erlebt ihre Kündigung als starke Demütigung.
Sie schreibt über 50 Bewerbungen und ist fassungslos über die Erfolglosigkeit
ihrer Bemühungen. Eine Depression setzt ein, begleitet von kreisrundem Haarausfall.
– Eine scheinbar ganz gewöhnliche Geschichte, ähnliches kennen Sie alle.
Um
sich aber in die besonderen Begleitumstände besser einfühlen zu können, stellen
Sie sich bitte nur für einen Moment vor, der Umsatz von Audi schwächele. Ein
Typ aus Texas käme nach Ingolstadt, behauptet, Audi sei nicht mehr
konkurrenzfähig, müsse deshalb von ihm übernommen und geschlossen werden und er
bekäme dafür auch noch irgendwelche Fördergelder. Die letzte Aufgabe für die
Beschäftigten sei der Rückbau des Betriebes. Schon gut – Ende des Gedankenspieles.
Zurück zur Normalität.
In
Fachgutachten über die östliche Million leerstehender Wohnungen lese ich von
„flächendeckendem Abriß der Stadtbrachen“ und, wo auch dafür das Geld fehlt,
von Vierteln, die „ausgebucht und eingemottet“ werden. Bewohner, die das
gleiche Schicksal vermeiden wollen, suchen das Weite. So will über die Hälfte
der Jugend in Mecklenburg-Vorpommern mit Sicherheit oder großer
Wahrscheinlichkeit wegziehen. (SVZ 5. 5. 02) Kein Wunder bei einer
realen Arbeitslosigkeit in dieser Region, die fünf mal so hoch ist, wie in
Bayern. Selbst in der Leuchtburg Dresden steht bald jede fünfte Wohnung leer.
Das Stadtumbauprogramm Ost ist ein rühriger Versuch der Bundesregierung, das
Desaster abzuwenden. Aber die Mittel sind doch nur ein Tropfen auf den kalten
Stein. Wenn sich die Menschen weiterhin in gleichem Ausmaß genötigt sehen, aus
beruflichen Gründen in den Westen zu ziehen, so werden nach Berechnungen von
Demographen schon im Jahre 2020 zwei Drittel aller Bewohner Ostdeutschlands
Rentner sein. Ich wage nicht mir vorzustellen, welche Folgen allein für das
Lebensgefühl das haben wird. Ironie oder Agonie? Der Aderlaß an Jugend,
Kreativität, Bildung, Optimismus und Lebenslust ist die größte Bedrohung für
den Osten.
Die
beabsichtigte schöpferische Zerstörung dessen, was einst die
überindustrialisierte DDR war, hat das Gebiet zu einem strukturschwachen
Entwicklungsland gemacht, in dem von fernen Zentralen fremdbestimmte
Montagebetriebe einsame Hoffnungsträger sind. Kein einziges der 190 größten
deutschen Unternehmen hat seinen Sitz im Osten. Den verlängerten Werkbänken
aber droht bei abschwächender Konjunktur als erstes der Abbau. Eine Allianz
böser Zungen behauptet, was dann noch blühe, seien Sondermülldeponien und
überdimensionierte Klärwerke.
Ich
bin mir bewußt, Ihr Maß an Leidensfähigkeit für den Osten nun ausgeschöpft zu
haben. Es wird Zeit, auch Ihre Situation zur Kenntnis zu nehmen. Es wäre pure
Ignoranz zu übersehen, daß selbstverständlich auch Sie Sorgen haben. Und gleichzeitig
Grund, auf das Erreichte stolz zu sein. Am Vorabend des Feiertages haben wir
alle Anspruch auf ein paar verbale Annehmlichkeiten. Deshalb wäre es an einem
Tag wie heute wohl angemessener zu sagen: Es ist alles langwieriger und
schwieriger als wir dachten, wir haben alle manchen Fehler aber auch vieles
Richtige gemacht, nun wissen wir, wo es lang geht, die Tendenz stimmt, ein Ende
ist absehbar.
Aber
gerade an einem Tag wie heute sollte man bei der Wahrheit bleiben. Deshalb sage
ich mir, Ihre eigene Situation kennen Sie. Und Sie werden diese halbe Stunde
schon durchhalten. Der bereits erwähnte Bericht der Bundesregierung weist für
den Osten im vorigen Jahr erstmalig ein Minuswachstum aus. Wir wissen nicht wo
es lang geht, die Tendenz stimmt nicht, ein Ende ist nicht absehbar.
Vor
wenigen Tagen hat der für den Aufbau Ost zuständige Bundesminister Manfred
Stolpe verkündet, der Traum von einer baldigen Angleichung der
Lebensbedingungen in Ost und West müsse „endgültig beerdigt werden“. Gleicher
Lohn für gleiche Leistung? Nein, siebzig Prozent Lohn bei gleichen Ausgaben.
Erst in 16 Jahren soll das Ziel geschafft sein, aber nicht etwa, weil
begründete Wachstumsprognosen zu dieser Hoffnung berechtigen, sondern weil dann
die Transfergelder auslaufen. Wundersame Genesung durch in Aussicht gestellten
Medikamentenentzug? Andere Fachleute gehen inzwischen davon aus, es werde
80 Jahre dauern, bis sich der Lebensstandard in beiden Teilen des Landes
angeglichen habe. Setzt sich diese Tendenz fort, wird es wohl niemanden mehr
überraschen, wenn uns demnächst erklärt wird, die Kluft werde überhaupt nie
überwunden werden. Viele sagen: der Osten ist aufgegeben worden. Von Chefsache
ist längst keine Rede mehr. Das ist auch gut so. Denn die Chefs kommen und
gehen, aber der Osten bleibt. Und ein alimentierter Osten schwächt den
Lebensstandard der ganzen Bundesrepublik. Spätestens hier bin ich doch auch
wieder bei Ihnen.
Nicht
nur deshalb wünschte ich mir, der Osten würde zur Herzenssache. Bei einer
dramatischen und sozusagen telegenen Katastrophe wie der Flut, ist das
eindrucksvoll gelungen. Die Solidarität war nicht nur herzerwärmend sondern für
die Betroffenen auch überlebenswichtig.
Aber
die schleichende alltägliche Abwärtsbewegung, der Streit darüber, ob der Osten
auf der Kippe steht oder bereits gekippt ist, ist schwer zu vermitteln. Haben
wir deshalb zur Aufmunterung die Ostalgiewelle beschert bekommen? Lassen Sie
mich dazu eine Episode erzählen. Vor einem Monat stand ich auf der Autobahn
Hamburg – Berlin im Stau. Ich meine so einen richtigen Stau, wo man aussteigt
und Zeit hat, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Vor uns in der Schlange
stand ein Wagen mit großem sat-1 Logo. Ihm entstieg eine Truppe junger,
lustiger Leute, die an Autos mit Berliner Nummern Einladungen verteilten: zur
„Ultimativen Ostshow“ am nächsten Wochenende. Ich nutzte die Gelegenheit mit
den Redakteuren ins Gespräch zu kommen, die, wie sich zeigte, alle Hamburger
waren. Meine Frage, ob sie denn auch einige Ostdeutsche in der Redaktion
hätten, überraschte sie zunächst, schließlich glaubten sie zu wissen, daß wohl
einige zur Beratung hinzugezogen worden seien. Also keine Sorge – selbst die
Ostalgie ist fest in Westhand.
Wenn
ich in den letzten Wochen zu Lesungen in den neuen Ländern unterwegs war, habe
ich gern erwähnt, daß ich heute hier sprechen werde und gefragt, was ich
erzählen soll. Immer wurde ich gebeten, ich möge reinen Wein einschenken – das
Anliegen ist erfüllt. Mit Blick auf jene Shows wurde bemängelt, daß die DDR
weder eine permanente Strafkolonie, noch eine andauernde Ulknummer war. Ich
möge doch erwähnen, daß es jenseits der Extreme eine alltägliche Anstrengung
von einer Menge Leute gab, die ihr Gebiet weiterbringen wollten. Als Beispiel
möge ich die Sache mit Pisa erwähnen. Womit gemeint war, daß nach jener
ernüchternden Studie eine Delegation der Gewerkschaft Erziehung und
Wissenschaft ins siegreiche Finnland fuhr, um sich das Geheimnis des Erfolgs
erklären zu lassen. Doch in Helsinki war man überrascht, weshalb sich die
Delegation aus Deutschland einen so weiten Weg gemacht hatte – schließlich
haben die Finnen das Grundmodell ihres Schulwesens einst aus der DDR
übernommen. Und dann weiterentwickelt. Manche DDR-Eigenheit konnte nur im
Ausland überleben. Als die Australier erfuhren, daß sie die Olympiade bekommen,
erzählt ein Lehrer der abgewickelten Sporthochschule, kamen ihre Trainer in die
DDR um den Breitensport und die Talenteförderung zu studieren. Spuren davon
sind auf dem fernen Kontinent noch auffindbar. Wie auch Reste des DDR-Familiengesetzbuches
in der Gesetzgebung von Entwicklungsländern.
Umgekehrt,
so sagen mir Russen, erkennen wir bei klarer Sicht schon vom Flugzeug aus, ob
wir noch über Ost- oder schon über Westdeutschland fliegen. Wissen Sie warum?
Klar, sage ich, die landwirtschaftlichen Betriebe sind im Osten im Schnitt
zehnmal so groß und entsprechend die Felder. 70 Prozent der einstiegen
LPG-Flächen werden weiterhin kollektiv bewirtschaftet. Was sich als durchaus
konkurrenzfähig erwiesen hat. Schade, sagen die Russen, die sich immer gut in
der DDR-Literatur auskannten, nun habt ihr keinen Geteilten Himmel mehr, aber
noch geteilten Boden.
Ja,
gebe ich zu, im Westen gibt es wenig Neigung, östliches know how
auszuprobieren. Das Verlierer-, Doping- und Spitzel-Image hat alles überdeckt.
Sagen Sie den Ingolstädtern, empfehlen meine Leser da wiederum, die
Gauck-Behörde habe mehrfach, wenn auch vergeblich darauf aufmerksam gemacht,
daß 98 Prozent der DDR-Bürger niemals mit der Stasi zu tun hatten. Sagen
sie dort, wir sind kein Land von Versagern, Denunzianten und Bittstellern.
Wir
möchten niemandem zur Last fallen. Wir möchten keine Almosenempfänger sein,
sondern etwas leisten dürfen. Wie wir wünschen, daß auch unsere bisherige
Leistung respektiert wird. Das ist doch ein ziemlich deutscher, also eigentlich
verständlicher Wunsch!
Wir
möchten Chancengleichheit, was heißt: die gleiche Freiheit für alle. Solange
dies nicht so ist, wird die Verheißung Freiheit im Osten nicht einfach als
Floskel abgenickt, sondern beargwöhnt. Die neuen Chancen durch den Hinzugewinn
von klassischen, freiheitlichen Rechten werden durchweg gewürdigt. Die
Möglichkeit, endlich überall hin reisen zu können, steht dabei an erster
Stelle. Aber auch die Selbstverständlichkeit von Schüler- und
Studentenaustauschen ist wunderbar. Der weitgehende Verlust von modernen,
sozialen Grundrechten ist für viele jedoch ein sehr hoher Preis. Eine
Verfassung soll den einzelnen vor dem Staat schützen. Das schließt aber nicht
aus, daß der Staat dennoch auch den einzelnen schützt. Erst die Dreieinigkeit
ist für die meisten Ostdeutschen die ganze Freiheit: Die Freiheit vom Staat
(also die Abwehrrechte), die Freiheit im Staat (die Partizipationsrechte) und
die Freiheit durch den Staat (die sozialen Menschenrechte).
Der
Gesetzgeber hat jedoch in den Augen vieler Ostdeutscher ihre Freiheitsrechte
auf bestimmten Gebieten eingeschränkt. Denn das wichtigste Freiheitsrecht ist
in der Marktwirtschaft das Eigentum. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines
Systems: „Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige
Unabhängigkeit.“ Die größte Enteignung, die es je im Kapitalismus gab, haben
die Ostdeutschen angesichts ihres nicht nur entschädigungslos, sondern sogar
mit Schaden, nämlich mit Schulden, geschluckten Volkseigentums erleben müssen.
In
Osteuropa haben sich die eigenen Eliten bereichert – welcher Couleur auch
immer. Ostdeutschland aber erlebt einen Kapitalismus ohne eigene Kapitalisten.
Die Unternehmensstruktur von Kleinproduzenten mit kleinen Liefermengen bei
folgerichtig höheren Preisen können mit den Rabatten, Vorzugskrediten und
anderen Vergünstigungen der Großen nicht mithalten.
All
diese Verfahren haben das Gefälle zementiert. Die heutigen Differenzen lassen
sich nicht allein aus der früheren Kluft des Lebensstandards erklären. Wenn die
Formel von Ludwig Erhard stimmt, so haben die Ostdeutschen, da sie im
Pro-Kopf-Vergleich zu den Westdeutschen nur noch über ein Viertel des Eigentums
verfügen, auch nur ein Viertel an persönlicher Sicherheit und geistiger
Unabhängigkeit. Und wo kein Haben ist, da ist nach hiesigen Spielregeln auch
kein Sagen. Man kann die Ostdeutschen nicht in Demokratie und soziale
Marktwirtschaft einbeziehen wollen, indem man sie zugleich von deren
Voraussetzungen, nämlich Arbeit und Eigentum, weitgehend ausschließt.
Das
allerdings trifft auf Westdeutsche, so sie dieselbe Erfahrung machen, ganz
genauso zu. Dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist
folgend Kluft zu entnehmen: Auf die vermögendsten 10 Prozent der Haushalte
„entfallen“ 42 Prozent des gesamten Privatvermögens. Während sich die
untere Hälfte aller Haushalte 4,5 Prozent der Bestände teilen muß. Wie
lange will sich diese untere Hälfte das eigentlich noch gefallen lassen?
Die
Rechnung für die denkbar teuerste Art der Vereinigung wird den Menschen auf
beiden Seiten untergejubelt. Dabei wird der Reichtum immer unverschämter, die
Armut immer verschämter. Werden wir angesichts eines vor der Tür stehenden
Winters mit vielleicht fünf Millionen Arbeitslosen fragen müssen, ob wir demnächst
im Abschwung vereint seien? Dagegen anzugehen liegt längst im gemeinsamen
Interesse der Betroffenen in Ost und West.
Ich
sprach eingangs von dem Selbstverständnis, wonach Schriftsteller nicht dazu da
sind, Lösungen anzubieten. Das müssen wir schon alle gemeinsam machen. Aber sie
sind unter anderem dazu da, Fragen zu stellen. Zwei kleine zum Schluß: Auf der
Kundgebung zum 1. Mai in Sindelfingen, wie Sie wissen, beinahe ein Synonym
mit Daimler-Crysler, hat der Bürgermeister darauf hingewiesen, daß die
Einnahmen der Stadt aus der Hundesteuer höher sind, als die aus der Gewerbesteuer.
Vielleicht können mir die Hundebesitzer unter Ihnen nachher erklären, wie es
damit in Ingolstadt aussieht.
Keine
Aufklärung brauche ich als Mutter einer schulpflichtigen Tochter darüber, daß
der Staat seine Ausgaben für Schulbücher in den letzten 10 Jahren um ein
Drittel gekürzt hat. Gleichzeitig stellte er über zwei Milliarden Euro für
60 Militärmaschinen mit dem harmlosen Namen Airbustransporter bereit.
Nicht ahnen könnend, welche Regierung in welchen Kriegen damit was transportieren
wird. Zwei Kriegsflugzeuge weniger und die Schulbuchfrage wäre gelöst. Wer
rechnet aus, für wieviel „Transporter“ weniger auch die Gesundheit der
Bevölkerung auf einen bezahlbaren Weg zu transportieren wäre?
Wenn
ich eingangs sagte, daß ein froher Anlaß uns heute zusammengebracht hat, so
deshalb, weil wir über alle diese Fragen nun nicht mehr gegeneinander, sondern
miteinander nachzudenken haben. Wir brauchen keine Energien mehr verschwenden,
uns gegenseitig zu blockieren. Ergänzen wir das Grüne Band zwischen uns durch
Bänder der Solidarität. Menschlicher Zusammenhalt gelingt dann, wenn jede Seite
ein Interesse daran hat. Werden wir uns bewußt, daß genau dies in vielen
Belangen der Fall ist. Mögen wir uns dem gütigen Geschick, das uns vor
13 Jahren beschert wurde, gewachsen erweisen.
Auszugsweise erschienen in Ossietzky
21/2003