Daniela Dahn:

 

Rede zur deutschen Einheit

Gehalten am 3. Oktober 2003 in Ingolstadt.

 

Meine Damen und Herren, liebe Ingolstädter!

Ein festlicher Anlaß führt uns zusammen, ein froher, denn heute vor 13 Jahren wurden aus den zwei deutschen Staaten wieder einer. Ist die 13 eine Glückszahl? Beginnen wir nicht mit der Krisenstimmung, in der sich das vereinte Land, vielleicht mit Ausnahme von Bayern befindet, richten wir unsere Aufmerksamkeit zur Feier des Tages zunächst auf die Erfreulichkeiten.

Vor sechs Wochen fand unter der Schirmherrschaft von Michael Gorbatschow in Bonn eine Tagung der Aktion „Grünes Band“ statt. So nämlich heißt heute der Streifen Land entlang der einstigen innerdeutschen Grenze, den sein spezielles, abstoßendes Schicksal immerhin 40 Jahre der Kommerzialisierung entzogen hat und der sich heute als Perlenkette wertvoller Biotope erweist. Von der Ostsee bei Travemünde bis zum einstigen Dreiländereck bei Hof ziehen sich in einer Länge von 1400 Kilometern urwaldähnliche Landschaften, Heiden, Moore, Auen und Almen. Seltene Tiere wie Braunkehlchen und Rotbauchunken, Fischotter und Seeadler fühlen sich da heimisch. Womit ich nicht andeuten will, daß sich die Tiere schneller als wir in der Einheit zurechtgefunden haben, sondern nur, daß alles seine zwei Seiten hat.

Übrigens blicken auch die Umweltschützer Europas mit Respekt auf dieses längste Biotop des Kontinents und versuchen, bei der Öffnung weiterer europäischer Grenzen ebenfalls Grüne Bänder unter Naturschutz zu stellen. Diese Art Beispielwirkung können wir uns gefallen lassen – denn hier wächst tatsächlich zusammen, was zusammengehört. Natürlich gibt es inzwischen auch im übertragenen Sinne eine Menge gemeinsamer Ost-West-Biotope auf wirtschaftlichem, wissenschaftlichem oder kulturellem Gebiet. Wo Menschen in gemeinsamen Projekten gemeinsame Ziele und Interessen vertreten, ergeben sich fast immer konstruktive Kontakte, die einen auch menschlich näher bringen.

Schließlich bin auch ich nach der Wende in einem großen Westverlag gelandet - so gesehen stehe ich als Gewinnlerin der Einheit vor Ihnen. Und gelegentlich mache ich mir immer noch bewußt, daß der Umstand überhaupt hier zu stehen, während Sie dort sitzen und mehr oder weniger freiwillig zuhören, vor 13 Jahren alles andere als selbstverständlich gewesen wäre. Vergessen wir bei der Besinnung auf die Erfreulichkeiten nicht, daß wir einfach eine Menge Normalität gewonnen haben.

Zu dieser Normalität gehört inzwischen auch, daß in Ostdeutschland neuere Autos gefahren werden als im Westen. Weil der Nachholbedarf größer war und die Kredite verlockend. Zu den beliebten Marken gehört durchaus Audi. Insofern ist es wohl nicht übertrieben zu behaupten, auch die Ingolstädter haben durch die staatliche Einheit nicht nur Nachteile. Ein paar Tausend Arbeitsplätze sind wohl dazugekommen. Unmittelbar vor meiner Abreise hierher bekam mein Nachbar Post aus Ingolstadt, den neuen Katalog – ich bin also im Bilde.

Zu der Generation gehörig, die bereits im staatlich geteilten Land geboren und aufgewachsen ist, habe ich den Wert des Ganzen bis vor 13 Jahren nie leben können. Wie viele von Ihnen auch nicht. Den Unwert erlebte ich schon. Eine Großmutter im Westen, eine im Osten, die Mauer fast vor der Haustür, ging der Riß quer durch Kinderwünsche. Aber schon früh war klar: dies ist nicht nur der Riß durch eine Familie oder ein Land – dies ist der Riß durch die Welt.

Im Februar 1961 fuhr meine Mutter mit meiner Schwester und mir in den Ferien nach Oberbayern, wo ihre Verwandten als Flüchtlinge aus Schlesien in einer Kleinstadt hängengeblieben waren. Von einer kleinen Entschädigung hatten sie einen bescheidenen Passagen-Laden eingerichtet, aber in den Gesprächen ging es oft ums Sparen. Erst nach einer Woche Skifahren in der schönen Alpenlandschaft erfuhren wir Kinder von der Ehekrise meiner Eltern, die eine Rückkehr vorerst nicht möglich machte. Und obwohl wir viele Annehmlichkeiten des Urlaubs genossen hatten, wozu auch meine Vorliebe für Gummibärchen gehörte, überwog das Heimweh. Mit elf Jahren wohl normal. Ich heulte drei Tage, dann wurde ich in die 5. Klasse eines Realgymnasiums eingeschult. Vieles war mir schon damals ungeheuer fremd. Warum gab es nur Mädchen auf dieser Schule? Auch die Gedichte verstand ich nicht. Zum Beispiel das mit dem Riesenfräulein, der Bauer war in der LPG sowieso kein Spielzeug, da brauchte kein Gott davor zu sein.

Die Hauptsorge meiner Mitschülerinnen schien darin zu bestehen, ob beim Beten vor dem Unterricht nun die Katholischen oder die Evangelischen an der Reihe seinen. Eine betende Klasse war ein totales Novum für mich. So wie mein nachgeschicktes Russisch-Lehrbuch für die bayrischen Mädchen. Sie gingen davon aus, daß man in der DDR nicht deutsch sprechen dürfe und fragten mich, ob ich Chruschtschow schon oft begegnet sei. Stell dir vor, der erste Mensch umkreist die Erde im Kosmos und deine Mitschülerinnen freuen sich nicht. Jeder Erklärungsversuch vertiefte die Fremdheit. Zum Beispiel meine Antwort auf die Frage, weshalb ich als einzige jeden Morgen tiefbewegt mein Milchgeld dem einbeinigen Mann gab, der vor dem Gymnasium saß. Er war einfach der erste Bettler, den ich je gesehen habe. Ich hatte keine Ahnung, wo sich in der DDR die Kriegsinvaliden aufhielten – jedenfalls nicht vor meiner Schule.

Machen wir uns nichts vor, die unterschiedlichen Prägungen haben sehr früh begonnen. Meine Schwester und ich waren jedenfalls froh, als sich im Sommer die private Krise gelegt hatte und wir nach Ostberlin zurückkehrten. Am Sonntag nach unserer Ankunft erreichte uns die Nachricht vom Bau der Mauer. Zu dem Schreck und der diffusen Ahnung, was für einschneidende Begrenzungen unser Leben erfahren würde, mischte sich bei mir aber auch Erleichterung: Da kann mich keiner mehr hinschicken! So untypisch kann das Leben sein.

Sie können immerhin davon ausgehen, daß ich bayrisch ganz gut verstehe. Umgekehrt hörte ich, daß nach dem Krieg in Ingolstadt Sächsisch die verbreitetste Fremdsprache gewesen sei. Weil in diesem nicht mehr benötigten Garnisionsstandort sich die neue Auto Union niederließ, während die ursprünglichen Werke in Chemnitz, Zschopau und Zwickau von der Sowjetunion als Reparationsleistung komplett demontiert wurden. Da war es den enthusiastischen sächsischen Autobauern nicht zu verdenken, wenn sie sich mitsamt den Konstruktions-unterlagen nach Ingolstadt absetzten. Ihre schöne Stadt hat – und das sage ich ganz neidlos – zweimal Glück gehabt: Sie hat von der Teilung profitiert und auch von der Vereinigung.

Ich bin noch bei dem Wert des Ganzen. Jahre nach Gründung der beiden deutschen Staaten wurde die Bezeichnung Deutschland in der DDR kommentarlos aus den Namen öffentlicher Einrichtungen und Organisationen getilgt. Nicht, daß der Begriff mich je gestört hätte, aber sein Verschwinden störte mich ebensowenig, er interessierte mich nicht. Als Nachkriegskind verbanden sich für mich mit ihm eher Gefühle des Verlustes als des Gewinns. Gut, der Rhein wäre eine Bereicherung des Erfahrbaren gewesen, aber nicht mehr als die Seine oder der Mississippi. Die wirklich schöne Ingolstädter Donau blieb uns verwehrt, was uns nicht davon abhielt, sie in Budapest zu bewundern. Und Sie wiederum kennen die Moldau vermutlich besser aus der Musik und die Wolga aus dem Fernsehen ...

Die Deutsche Klassik war für mich der Teil der Weltliteratur, der glücklicherweise in meiner Sprache verfaßt war. Sicher, ich liebte die Brüder Mann und Feuchtwanger und Brecht, aber das bedeutete nicht zwangsläufig, daß diese Autoren mir näher gewesen wären als Dostojewski oder Camus. Die Welt war absurd und imponieren konnte am besten, wer sie als solche beschrieb. Kafka – auch nur bedingt ein Deutscher. Und Beckett nicht mal das.

Die DDR mit ihrer Provinzialität und Enge konnte selbstverständlich auch nicht die Endstation Sehnsucht sein. Aber sie war Teil einer Dimension, die durchaus aufregend war – Osteuropa, der großangelegte Versuch, einer alternativen Antwort auf die soziale Frage. „Sozialismus und Kapitalismus, die beiden genial mißratenen Kinder der Aufklärung“, wie Günter Grass sie unlängst nannte, okkupierten Bindungskräfte meiner Generation auf beiden Seiten. Sie waren genial, weil es beiden gelungen war, wenigsten eines der großen Ideale der Aufklärung weitgehend zu gewährleisten – der eine Gleichheit, der andere Freiheit. Sie sind mißraten, weil beide nicht wahrhaben wollten und wollen, daß das eine ohne das andere seinen Wert verliert.

In der DDR hat die Unterdrückung beinahe aller alternativen und kreativen Ansätze, die Verfolgung Andersdenkender und die allgemeine Gängelung und Bevormundung schließlich zu einer so spürbaren Beeinträchtigung durchaus vorhandener Leistungspotenzen geführt, daß die Menschen den permanenten Mangel an Waren und an Glaubwürdigkeit satt hatten. Ihre weitgehende soziale Gleichheit in Form von Existenzsicherheit war da kein hinreichender Trost mehr. Nicht umsonst habe ich meinen Beruf als Fernsehjournalistin neun Jahre vor der Einheit an den Nagel gehängt und statt dessen das Leben in der DDR in Büchern und Hörspielen beschrieben, die meist gleichzeitig im Westen erschienen und auch nach der Wende noch Bestand hatten.

So war es kein Zufall, daß ich im Herbst 89 Gründungsmitglied der Bürgerbewegung „Demokratischer Aufbruch“ wurde. Da ich meine Erfahrungen aus jener Zeit wiederum in Büchern festgehalten habe, sind mir die damaligen Hoffnungen noch sehr gegenwärtig. Es würde vielleicht unserem feierlichen Einvernehmnis entgegenkommen, wenn ich auch den Rest meiner kurzen Redezeit nicht dafür verschwenden würde, auf die Diskrepanz von damaligen Erwartungen in Ost und West und heutiger Realität zu verweisen, sondern bei den Errungenschaften der letzten Jahre bleibe.

So etwa bei den frischen Farben, denen das einstige Grau in vielen östlichen Städten und Dörfern gewichen ist. Fast drei Viertel des Wohnungsbestandes sind seit der Einheit modernisiert worden. In den ersten drei Jahren wurden soviel Ein- und Zweifamilienhäuser gebaut wie in der DDR in zwanzig Jahren. Dabei wurden doppelt so viel staatliche Zuschüsse für die private Wohneigentumsbildung ausgegeben wie für sozialen Wohnungsbau und Wohngeld. Allerdings ist dies auch eine der Ursachen für den deprimierenden Wohnungsleerstand. Und bei all den neuen Konsumpalästen, Bankfilialen, Villen und Wellness-Bädern sollte man gelegentlich fragen, wer hier Hausherr und wer Hausmeister ist.

Wenn Sie sich schon zur Festrede eine Autorin einladen, die durch eine kritische Sicht auf den Weg der Einheit aufgefallen ist, empfinde ich es als ein Gebot des Respekts, Ihnen gerade an einem Tag wie heute Problematisches nicht vorzuenthalten. Das ist eben nicht Larmoyanz, sondern Ausdruck gegenseitigen Ernstnehmens. Nur wer die Lage und die Meinung seines Gegenüber kennt kann ihn verstehen, was auch heißt sachkundig widersprechen oder hilfreiche Vorschläge machen.

Wer nie versucht hat sich einzumischen, soll nicht behaupten es ginge nicht. Sich schreibend einmischen, heißt stören. Wer zufrieden ist, schreibt nicht. Schreiben heißt abweichen und rebellieren, attackieren und ironisieren. Schriftsteller sind nicht dazu da, Harmoniebedürfnisse zu erfüllen. Sie müssen auch keine Hoffnungen machen und Lösungen anbieten. Dafür haben wir ja Politiker. Schriftsteller sollten auf ihre Art das Problembewußtsein schärfen und die Sensibilität füreinander wachhalten. Nur wer so gezielt zuspitzt, daß er einen empfindlichen Nerv trifft, wird überhaupt gehört. Und muß dann selbst mit Angriffen rechnen.

Ich erinnere mich gut, welche große Erwartungen viele DDR-Bürger in die Demokratie gesetzt haben. Zu den wichtigsten Forderungen aus der Wendezeit gehörte das Recht auf freie Wahlen. Bei den letzten Kommunalwahlen in Thüringen betrug die Wahlbeteiligung 45 Prozent. Der Selbstentmachtung der Politiker folgt zwangsläufig die Selbstentmachtung der Wähler. Dieses Verhalten ist enttäuschend. Man kann es kritisieren, aber hilfreicher ist wohl, es erklären zu wollen.

Nach 13 Jahren Einheit ist die Bilanz durchaus widersprüchlich. Die gute Hälfte der Befragten Ostdeutschen, darunter viele Rentner, gibt an, ihre persönliche materielle Situation habe sich im Vergleich zur DDR verbessert. Das bezieht sich vor allem auf den Wohnkomfort, auf Konsum- und Reisemöglichkeiten. Für westliche Beobachter merkwürdigerweise stieg aber das Wohlwollen gegenüber Politik und Gesellschaft nicht proportional. Das heißt, wachsender Wohlstand zieht im Osten nicht unbedingt wachsendes Wohlbefinden nach sich. Um meiner Glaubwürdigkeit vor Ihnen Nachdruck zu verleihen, stammen alle Zahlenangaben aus westlichen Quellen. So entnehme ich dem Schulbuch meiner Tochter, daß mit der Demokratie in Deutschland im Westen 73% eher zufrieden sind, im Osten nur 48%. Dies ist jedoch keine generelle Demokratiefeindlichkeit und Ablehnung marktwirtschaftlicher Steuerung, sondern eine Kritik daran, wie marktradikal und lobbyistisch das System im Osten übertragen wurde.

Es gibt Fehler, die sind so gravierend, daß sie irreparabel sind. Dazu gehört das Anzetteln von Eroberungskriegen – das muß man hierzulande nicht erklären. Nach dem ersten Weltkrieg sank die Industrieproduktion Deutschlands auf 60 Prozent. Nach dem zweiten Weltkrieg sank sie auf 40 Prozent. Auf 30 Prozent sank die Industrieproduktion Ostdeutschlands nach dem Beitritt. Alle Fachleute hatten dies vorausgesagt. Der Bundesrat machte seine Zustimmung zum Vertrag über die Währungsunion in einer nie an die Öffentlichkeit gelangten Entschließung davon abhängig, daß es unverzüglich zu Neuverhandlungen kommt, „sobald sich zeigt, daß die DDR auf Dauer zum wirtschaftlichen Notstandsgebiet zu werden droht“. (Bundestagsprotokoll, II Wahlperiode, S. 17574) „Die Wirkung der Währungsunion zu den Bedingungen von Kanzler Kohl war vergleichbar mit einer ökonomischen Atombombe“, konstatierte der Wirtschaftskolumnist des Guardian knapp ein Jahr später. (April 1991) Doch statt nachzuverhandeln, kam die Schocktherapie der Treuen Hand hinzu, die 95 Prozent des Volkseigentums in westliche Hände übergab. Die Ostdeutschen sind heute die Bevölkerung in Europa, der am wenigsten von dem Territorium gehört, auf dem sie lebt. Immobilien, Betriebe und Bodenreformland wurden unter Konditionen verkauft, von denen die einstigen DDR-Bürger weitgehend ausgeschlossen waren. Egon Bahr hat darauf hingewiesen, daß in Ostdeutschland feudale, frühmittelalterliche Eigentumsstrukturen geschaffen wurden, wie sie selbst in Afrika und im Orient vor zwei Generationen überwunden worden sind. Die politische Vereinigung Deutschlands hat die ökonomische Spaltung auf gewissen Gebieten vertieft.

Das Problem ist beileibe nicht, daß der Osten noch nicht den Wohlstand des Westens erreicht hat. Der soeben erschienene Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit weist für die neuen Länder ein Bruttoinlandprodukt aus, das immer noch unter dem liegt, das selbst die marode DDR am Ende zustande gebracht hatte. Oder aus der Sicht (des 19. Berichts) des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung beschrieben: Die Einfuhren nach Ostdeutschland übertreffen die Ausfuhren auf dramatische Weise. Das jährliche Leistungsbilanzdefizit betrug in den letzten Jahren jeweils 200 Milliarden Mark. Diese gigantische Summe bedeutet, daß im Beitrittsgebiet jeden Tag Leistungen von etwa 600 Millionen Mark angefordert werden, die durch eigene Wirtschaftskraft nicht gedeckt sind. Anders ausgedrückt: Rund ein Drittel des Verbrauchs in den neuen Ländern wird von draußen finanziert – eine zu DDR-Zeiten undenkbare Disproportion. Es ist freilich ein Bankrott auf hohem Niveau: Unsere Telekommunikation ist auf dem neusten Stand und die meisten Straßen sind ausgebaut. Aber all die schöne Infrastruktur erfüllt hauptsächlich den Zweck, westliche Waren ins Beitrittsgebiet zu karren. Märkte schaffen ohne Waffen.

Das Grundmißverständnis zwischen Ost und West besteht darin, daß eine Seite denkt, sie gibt ihr Letztes, während die andere meint, man nähme ihr das Letzte. – Spätestens hier glaube ich Ihre nicht unberechtigte Frage zu hören, ob die Ostdeutschen angesichts der enormen Transferzahlungen, von denen man in den anderen Osteuropäischen Ländern nur träumt, nicht auch etwas zufriedener, oder klarer gesagt, dankbarer sein könnten?

Das ist ein sehr sensibler Punkt. Natürlich entgeht vielen Ostdeutschen nicht, welchen enormen Belastungen inzwischen nicht nur die Städte und Gemeinden in den alten Bundesländern unterworfen sind. Da die Kosten der gegen jede ökonomische Vernunft organisierten Einheit leider nicht durch einen Lastenausgleich aufgebracht wurden, sondern weitgehend den Sozialsystemen aufgebürdet wurden, kann gar nicht übersehen werden, daß auch jeder von Ihnen von dieser und jener Agenda empfindlich zur Kasse gebeten wird. „Unser soziales System steht wirklich auf der Kippe“, hat Exbundespräsident Herzog gerade gesagt. Daß sich inzwischen herumgesprochen hat, daß auch die Ostdeutschen den Solidaritätsbeitrag zahlen, macht die Sache nicht besser. Soweit ich es beurteilen kann, sieht man im Osten die westlichen Leistungen mit Respekt und Mitgefühl. Und mit dem unbehaglichen Wissen darum, daß die DDR-Wirtschaft am Ende verschlissen war. Sie war krank, aber nicht tot.

Die gesamten Auslandsschulden betrugen etwa ein Viertel dessen, was jetzt jährlich an Transfergeldern nötig ist. Für mein Buch „Wem gehört der Osten“ habe ich den zurückgetretenen Bundesbankpräsidenten Karl-Otto Pöhl und andere Kapazitäten ausführlich zur Leistungsfähigkeit der DDR-Wirtschaft und Währung befragt – darauf einzugehen fehlt jetzt die Zeit. Unterstellt, die industrielle Ausrüstung sei ein einziger Schrotthaufen gewesen, bliebe die Frage wie man mit einem Schrotthaufen 1989 immerhin noch ein Bruttosozialprodukt von 354 Milliarden Mark (Statistisches Jahrbuch der DDR von 1990) erwirtschaften konnte. Angenommen es war ein Schrotthaufen, was nicht stimmt, aber bleiben wir dabei – so konnten doch die Immobilien und der schuldenfreie Grund und Boden und vor allem die mitgebrachten, enormen Absatzmärkte in Osteuropa und Asien nicht wertlos sein. Die sind nämlich nicht weggebrochen, wie behaupten wird, sondern weggenommen. Schon nach kurzer Zeit haben westliche Unternehmen diese langjährigen Kunden der DDR in vollem Umfang beliefert.

Ein Zufall war es nicht, daß zwischen 1989 und 1992 die Zahl der Einkommensmillionäre in den alten Bundesländern um beinahe 40 Prozent zugenommen hat. Wir heute hier Zusammengekommenen sind da nicht dabei – da bin ich mir ziemlich sicher. Ein Zufall war es auch nicht, daß 1990 das Beste Geschäftsjahr der Deutschen Bank in ihrer hundertjährigen Geschichte war. Im Spiegel (10/94 S. 55) konnte man dazu lesen:

„Für westliche Geldhändler hat es einen dickeren Fang wohl nie gegeben: Das komplette Bankensystem eines ganzen Staates, rund 80 Milliarden Mark Spareinlagen und die Schulden auf der anderen Bilanzseite, war im Supermarkt der deutschen Einheit billig zu haben. Fast alle bedeutenden Kreditinstitute griffen zu.“

Wenn man bedenkt, daß Kredite in der DDR für einen Zinssatz zwischen 2 und 5 Prozent vergeben wurden, die neuen Geldeigner aber für diese, von ihnen selbst nie vergebenen Kredite plötzlichen einen Zinssatz von 10 und mehr Prozent forderten, und so allein zwischen 1991 und 1996 einen Zusatzgewinn von ca. 100 Milliarden D-Mark erzielten, so muß man sich schon fragen, weshalb nicht auch die Banken einen kleinen Solidarbeitrag zu zahlen haben ...

Die selbe Frage wäre bei fast allen Treuhandgeschäften angebracht. „In Wahrheit waren fünf Jahre Aufbau Ost das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat.“ Sage nicht ich, sondern Henning Voscherau (4. 12. 96 in der Welt), damals Hamburgs Regierender Bürgermeister. Für Westdeutsche sagt er, nicht für alle Westdeutsche. Für einige würde ich denken. Eher einige wenige.

Das statistische Bundesamt veranschlagt den „Vereinigungsgewinn“ für Westdeutschland auf rund 200 Milliarden D-Mark pro Jahr. Weit mehr also, als der Bruttotransfer in die entgegengesetzte Richtung, der den Ostdeutschen ständig vorgerechnet wird. Verstehen Sie jetzt, weshalb ich bei der Frage nach der Dankbarkeit erst immer genau wissen will: Wem? Wofür?

(Ihnen, allein dafür mir weiter zuzuhören, gebührt sie auf jeden Fall!)

Einen Vereinigungsprozeß, der gerecht verlief, hat es in der Geschichte allerdings noch nie gegeben. Der Zusammenschluß verschieden starker Partner ist immer die Stunde der Lobbyisten. Wenn etwas Warmes und etwas Kaltes zusammenfließen, dann wird das Warme kälter und das Kalte wärmer. So ist die Natur. Wenn sich Reich und Arm vereinen, dann wird das Reiche reicher und das Arme ärmer. So ist der Mensch.

Als sich die reichen Nordstaaten Amerikas nach dem gewonnenen Bürgerkrieg 1865 entschlossen, den armen Süden aufzubauen, nahm in einem Jahrzehnt der Wohlstand des Nordens um weitere 50 Prozent zu, während der Lebensstandard im Süden um weitere 60 Prozent sank. So ist das Geld. Das hätte man wissen können.

Gestatten Sie mir ein kleines Gedankenspiel: Ich bin aufgewachsen im Süden von Berlin, wo rund um Teltow im Laufe der Jahre große Volkseigene Betriebe gebaut wurden. Erst ein Geräte- und Reglerwerk, dann ein Kombinat für Elektronische Bauelemente, schließlich ein Halbleiterwerk. Mitte der achtziger Jahre habe ich in einem Originalton-Hörspiel die Geschichte einer jungen Facharbeiterin von dort erzählt, deren Arbeit, das Gold-Bedampfen von elektronischen Chips, durch einen Automaten wegrationalisiert wurde. Selbstverständlich bekam sie einen anderen Arbeitsplatz im Betrieb zugewiesen. Diese Tätigkeit war aber monoton, etwas für Ungelernte. Daraufhin ging sie wütend zur Gewerkschaft und sagte dort dasselbe, wie in mein Mikrofon: Ich bin ein Facharbeiter und kein Spielzeug und wenn ihr mir keine Arbeit geben könnt, die mir Spaß macht, dann werde ich wohl kündigen müssen. Das war eine handfeste Drohung, denn die Fluktuation im ganzen Land war hoch, und jeder Abteilungsleiter bekam großen Ärger, wenn wieder einer seiner Werktätigen aus Unzufriedenheit den Betrieb verlassen wollte. Das klingt heute wie eine Geschichte von einem anderen Stern.

Der Umstand, daß die Produkte dieser Region bis zur Währungsunion in über 30 Länder exportiert wurden, allerdings auch. Von den 18 000 Industriearbeitsplätzen sind danach einige hundert übrig geblieben. Mitte der neunziger Jahre schrieb ich die Geschichte einer Ingenieurin für wissenschaftlichen Gerätebau auf. Nach der Wende wird ihr Betriebsteil des 6000 Leute beschäftigenden Geräte- und Reglerwerkes von einer Firma aus Texas übernommen. Die steckt alle Fördermittel ein, baut dann aber, bis auf eine GmbH mit 32 Mitarbeitern, alle Arbeitsplätze ab. Die Ingenieurin, die als „Persönlichkeit mit einem hohen Maß an sozialer Orientierung“ gilt, erlebt ihre Kündigung als starke Demütigung. Sie schreibt über 50 Bewerbungen und ist fassungslos über die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen. Eine Depression setzt ein, begleitet von kreisrundem Haarausfall. – Eine scheinbar ganz gewöhnliche Geschichte, ähnliches kennen Sie alle.

Um sich aber in die besonderen Begleitumstände besser einfühlen zu können, stellen Sie sich bitte nur für einen Moment vor, der Umsatz von Audi schwächele. Ein Typ aus Texas käme nach Ingolstadt, behauptet, Audi sei nicht mehr konkurrenzfähig, müsse deshalb von ihm übernommen und geschlossen werden und er bekäme dafür auch noch irgendwelche Fördergelder. Die letzte Aufgabe für die Beschäftigten sei der Rückbau des Betriebes. Schon gut – Ende des Gedankenspieles. Zurück zur Normalität.

In Fachgutachten über die östliche Million leerstehender Wohnungen lese ich von „flächendeckendem Abriß der Stadtbrachen“ und, wo auch dafür das Geld fehlt, von Vierteln, die „ausgebucht und eingemottet“ werden. Bewohner, die das gleiche Schicksal vermeiden wollen, suchen das Weite. So will über die Hälfte der Jugend in Mecklenburg-Vorpommern mit Sicherheit oder großer Wahrscheinlichkeit wegziehen. (SVZ 5. 5. 02) Kein Wunder bei einer realen Arbeitslosigkeit in dieser Region, die fünf mal so hoch ist, wie in Bayern. Selbst in der Leuchtburg Dresden steht bald jede fünfte Wohnung leer. Das Stadtumbauprogramm Ost ist ein rühriger Versuch der Bundesregierung, das Desaster abzuwenden. Aber die Mittel sind doch nur ein Tropfen auf den kalten Stein. Wenn sich die Menschen weiterhin in gleichem Ausmaß genötigt sehen, aus beruflichen Gründen in den Westen zu ziehen, so werden nach Berechnungen von Demographen schon im Jahre 2020 zwei Drittel aller Bewohner Ostdeutschlands Rentner sein. Ich wage nicht mir vorzustellen, welche Folgen allein für das Lebensgefühl das haben wird. Ironie oder Agonie? Der Aderlaß an Jugend, Kreativität, Bildung, Optimismus und Lebenslust ist die größte Bedrohung für den Osten.

Die beabsichtigte schöpferische Zerstörung dessen, was einst die überindustrialisierte DDR war, hat das Gebiet zu einem strukturschwachen Entwicklungsland gemacht, in dem von fernen Zentralen fremdbestimmte Montagebetriebe einsame Hoffnungsträger sind. Kein einziges der 190 größten deutschen Unternehmen hat seinen Sitz im Osten. Den verlängerten Werkbänken aber droht bei abschwächender Konjunktur als erstes der Abbau. Eine Allianz böser Zungen behauptet, was dann noch blühe, seien Sondermülldeponien und überdimensionierte Klärwerke.

Ich bin mir bewußt, Ihr Maß an Leidensfähigkeit für den Osten nun ausgeschöpft zu haben. Es wird Zeit, auch Ihre Situation zur Kenntnis zu nehmen. Es wäre pure Ignoranz zu übersehen, daß selbstverständlich auch Sie Sorgen haben. Und gleichzeitig Grund, auf das Erreichte stolz zu sein. Am Vorabend des Feiertages haben wir alle Anspruch auf ein paar verbale Annehmlichkeiten. Deshalb wäre es an einem Tag wie heute wohl angemessener zu sagen: Es ist alles langwieriger und schwieriger als wir dachten, wir haben alle manchen Fehler aber auch vieles Richtige gemacht, nun wissen wir, wo es lang geht, die Tendenz stimmt, ein Ende ist absehbar.

Aber gerade an einem Tag wie heute sollte man bei der Wahrheit bleiben. Deshalb sage ich mir, Ihre eigene Situation kennen Sie. Und Sie werden diese halbe Stunde schon durchhalten. Der bereits erwähnte Bericht der Bundesregierung weist für den Osten im vorigen Jahr erstmalig ein Minuswachstum aus. Wir wissen nicht wo es lang geht, die Tendenz stimmt nicht, ein Ende ist nicht absehbar.

Vor wenigen Tagen hat der für den Aufbau Ost zuständige Bundesminister Manfred Stolpe verkündet, der Traum von einer baldigen Angleichung der Lebensbedingungen in Ost und West müsse „endgültig beerdigt werden“. Gleicher Lohn für gleiche Leistung? Nein, siebzig Prozent Lohn bei gleichen Ausgaben. Erst in 16 Jahren soll das Ziel geschafft sein, aber nicht etwa, weil begründete Wachstumsprognosen zu dieser Hoffnung berechtigen, sondern weil dann die Transfergelder auslaufen. Wundersame Genesung durch in Aussicht gestellten Medikamentenentzug? Andere Fachleute gehen inzwischen davon aus, es werde 80 Jahre dauern, bis sich der Lebensstandard in beiden Teilen des Landes angeglichen habe. Setzt sich diese Tendenz fort, wird es wohl niemanden mehr überraschen, wenn uns demnächst erklärt wird, die Kluft werde überhaupt nie überwunden werden. Viele sagen: der Osten ist aufgegeben worden. Von Chefsache ist längst keine Rede mehr. Das ist auch gut so. Denn die Chefs kommen und gehen, aber der Osten bleibt. Und ein alimentierter Osten schwächt den Lebensstandard der ganzen Bundesrepublik. Spätestens hier bin ich doch auch wieder bei Ihnen.

Nicht nur deshalb wünschte ich mir, der Osten würde zur Herzenssache. Bei einer dramatischen und sozusagen telegenen Katastrophe wie der Flut, ist das eindrucksvoll gelungen. Die Solidarität war nicht nur herzerwärmend sondern für die Betroffenen auch überlebenswichtig.

Aber die schleichende alltägliche Abwärtsbewegung, der Streit darüber, ob der Osten auf der Kippe steht oder bereits gekippt ist, ist schwer zu vermitteln. Haben wir deshalb zur Aufmunterung die Ostalgiewelle beschert bekommen? Lassen Sie mich dazu eine Episode erzählen. Vor einem Monat stand ich auf der Autobahn Hamburg – Berlin im Stau. Ich meine so einen richtigen Stau, wo man aussteigt und Zeit hat, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Vor uns in der Schlange stand ein Wagen mit großem sat-1 Logo. Ihm entstieg eine Truppe junger, lustiger Leute, die an Autos mit Berliner Nummern Einladungen verteilten: zur „Ultimativen Ostshow“ am nächsten Wochenende. Ich nutzte die Gelegenheit mit den Redakteuren ins Gespräch zu kommen, die, wie sich zeigte, alle Hamburger waren. Meine Frage, ob sie denn auch einige Ostdeutsche in der Redaktion hätten, überraschte sie zunächst, schließlich glaubten sie zu wissen, daß wohl einige zur Beratung hinzugezogen worden seien. Also keine Sorge – selbst die Ostalgie ist fest in Westhand.

Wenn ich in den letzten Wochen zu Lesungen in den neuen Ländern unterwegs war, habe ich gern erwähnt, daß ich heute hier sprechen werde und gefragt, was ich erzählen soll. Immer wurde ich gebeten, ich möge reinen Wein einschenken – das Anliegen ist erfüllt. Mit Blick auf jene Shows wurde bemängelt, daß die DDR weder eine permanente Strafkolonie, noch eine andauernde Ulknummer war. Ich möge doch erwähnen, daß es jenseits der Extreme eine alltägliche Anstrengung von einer Menge Leute gab, die ihr Gebiet weiterbringen wollten. Als Beispiel möge ich die Sache mit Pisa erwähnen. Womit gemeint war, daß nach jener ernüchternden Studie eine Delegation der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ins siegreiche Finnland fuhr, um sich das Geheimnis des Erfolgs erklären zu lassen. Doch in Helsinki war man überrascht, weshalb sich die Delegation aus Deutschland einen so weiten Weg gemacht hatte – schließlich haben die Finnen das Grundmodell ihres Schulwesens einst aus der DDR übernommen. Und dann weiterentwickelt. Manche DDR-Eigenheit konnte nur im Ausland überleben. Als die Australier erfuhren, daß sie die Olympiade bekommen, erzählt ein Lehrer der abgewickelten Sporthochschule, kamen ihre Trainer in die DDR um den Breitensport und die Talenteförderung zu studieren. Spuren davon sind auf dem fernen Kontinent noch auffindbar. Wie auch Reste des DDR-Familiengesetzbuches in der Gesetzgebung von Entwicklungsländern.

Umgekehrt, so sagen mir Russen, erkennen wir bei klarer Sicht schon vom Flugzeug aus, ob wir noch über Ost- oder schon über Westdeutschland fliegen. Wissen Sie warum? Klar, sage ich, die landwirtschaftlichen Betriebe sind im Osten im Schnitt zehnmal so groß und entsprechend die Felder. 70 Prozent der einstiegen LPG-Flächen werden weiterhin kollektiv bewirtschaftet. Was sich als durchaus konkurrenzfähig erwiesen hat. Schade, sagen die Russen, die sich immer gut in der DDR-Literatur auskannten, nun habt ihr keinen Geteilten Himmel mehr, aber noch geteilten Boden.

Ja, gebe ich zu, im Westen gibt es wenig Neigung, östliches know how auszuprobieren. Das Verlierer-, Doping- und Spitzel-Image hat alles überdeckt. Sagen Sie den Ingolstädtern, empfehlen meine Leser da wiederum, die Gauck-Behörde habe mehrfach, wenn auch vergeblich darauf aufmerksam gemacht, daß 98 Prozent der DDR-Bürger niemals mit der Stasi zu tun hatten. Sagen sie dort, wir sind kein Land von Versagern, Denunzianten und Bittstellern.

Wir möchten niemandem zur Last fallen. Wir möchten keine Almosenempfänger sein, sondern etwas leisten dürfen. Wie wir wünschen, daß auch unsere bisherige Leistung respektiert wird. Das ist doch ein ziemlich deutscher, also eigentlich verständlicher Wunsch!

Wir möchten Chancengleichheit, was heißt: die gleiche Freiheit für alle. Solange dies nicht so ist, wird die Verheißung Freiheit im Osten nicht einfach als Floskel abgenickt, sondern beargwöhnt. Die neuen Chancen durch den Hinzugewinn von klassischen, freiheitlichen Rechten werden durchweg gewürdigt. Die Möglichkeit, endlich überall hin reisen zu können, steht dabei an erster Stelle. Aber auch die Selbstverständlichkeit von Schüler- und Studentenaustauschen ist wunderbar. Der weitgehende Verlust von modernen, sozialen Grundrechten ist für viele jedoch ein sehr hoher Preis. Eine Verfassung soll den einzelnen vor dem Staat schützen. Das schließt aber nicht aus, daß der Staat dennoch auch den einzelnen schützt. Erst die Dreieinigkeit ist für die meisten Ostdeutschen die ganze Freiheit: Die Freiheit vom Staat (also die Abwehrrechte), die Freiheit im Staat (die Partizipationsrechte) und die Freiheit durch den Staat (die sozialen Menschenrechte).

Der Gesetzgeber hat jedoch in den Augen vieler Ostdeutscher ihre Freiheitsrechte auf bestimmten Gebieten eingeschränkt. Denn das wichtigste Freiheitsrecht ist in der Marktwirtschaft das Eigentum. Ludwig Erhard kannte die Spielregel seines Systems: „Nur Eigentum gewährleistet persönliche Sicherheit und geistige Unabhängigkeit.“ Die größte Enteignung, die es je im Kapitalismus gab, haben die Ostdeutschen angesichts ihres nicht nur entschädigungslos, sondern sogar mit Schaden, nämlich mit Schulden, geschluckten Volkseigentums erleben müssen.

In Osteuropa haben sich die eigenen Eliten bereichert – welcher Couleur auch immer. Ostdeutschland aber erlebt einen Kapitalismus ohne eigene Kapitalisten. Die Unternehmensstruktur von Kleinproduzenten mit kleinen Liefermengen bei folgerichtig höheren Preisen können mit den Rabatten, Vorzugskrediten und anderen Vergünstigungen der Großen nicht mithalten.

All diese Verfahren haben das Gefälle zementiert. Die heutigen Differenzen lassen sich nicht allein aus der früheren Kluft des Lebensstandards erklären. Wenn die Formel von Ludwig Erhard stimmt, so haben die Ostdeutschen, da sie im Pro-Kopf-Vergleich zu den Westdeutschen nur noch über ein Viertel des Eigentums verfügen, auch nur ein Viertel an persönlicher Sicherheit und geistiger Unabhängigkeit. Und wo kein Haben ist, da ist nach hiesigen Spielregeln auch kein Sagen. Man kann die Ostdeutschen nicht in Demokratie und soziale Marktwirtschaft einbeziehen wollen, indem man sie zugleich von deren Voraussetzungen, nämlich Arbeit und Eigentum, weitgehend ausschließt.

Das allerdings trifft auf Westdeutsche, so sie dieselbe Erfahrung machen, ganz genauso zu. Dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung ist folgend Kluft zu entnehmen: Auf die vermögendsten 10 Prozent der Haushalte „entfallen“ 42 Prozent des gesamten Privatvermögens. Während sich die untere Hälfte aller Haushalte 4,5 Prozent der Bestände teilen muß. Wie lange will sich diese untere Hälfte das eigentlich noch gefallen lassen?

Die Rechnung für die denkbar teuerste Art der Vereinigung wird den Menschen auf beiden Seiten untergejubelt. Dabei wird der Reichtum immer unverschämter, die Armut immer verschämter. Werden wir angesichts eines vor der Tür stehenden Winters mit vielleicht fünf Millionen Arbeitslosen fragen müssen, ob wir demnächst im Abschwung vereint seien? Dagegen anzugehen liegt längst im gemeinsamen Interesse der Betroffenen in Ost und West.

Ich sprach eingangs von dem Selbstverständnis, wonach Schriftsteller nicht dazu da sind, Lösungen anzubieten. Das müssen wir schon alle gemeinsam machen. Aber sie sind unter anderem dazu da, Fragen zu stellen. Zwei kleine zum Schluß: Auf der Kundgebung zum 1. Mai in Sindelfingen, wie Sie wissen, beinahe ein Synonym mit Daimler-Crysler, hat der Bürgermeister darauf hingewiesen, daß die Einnahmen der Stadt aus der Hundesteuer höher sind, als die aus der Gewerbesteuer. Vielleicht können mir die Hundebesitzer unter Ihnen nachher erklären, wie es damit in Ingolstadt aussieht.

Keine Aufklärung brauche ich als Mutter einer schulpflichtigen Tochter darüber, daß der Staat seine Ausgaben für Schulbücher in den letzten 10 Jahren um ein Drittel gekürzt hat. Gleichzeitig stellte er über zwei Milliarden Euro für 60 Militärmaschinen mit dem harmlosen Namen Airbustransporter bereit. Nicht ahnen könnend, welche Regierung in welchen Kriegen damit was transportieren wird. Zwei Kriegsflugzeuge weniger und die Schulbuchfrage wäre gelöst. Wer rechnet aus, für wieviel „Transporter“ weniger auch die Gesundheit der Bevölkerung auf einen bezahlbaren Weg zu transportieren wäre?

Wenn ich eingangs sagte, daß ein froher Anlaß uns heute zusammengebracht hat, so deshalb, weil wir über alle diese Fragen nun nicht mehr gegeneinander, sondern miteinander nachzudenken haben. Wir brauchen keine Energien mehr verschwenden, uns gegenseitig zu blockieren. Ergänzen wir das Grüne Band zwischen uns durch Bänder der Solidarität. Menschlicher Zusammenhalt gelingt dann, wenn jede Seite ein Interesse daran hat. Werden wir uns bewußt, daß genau dies in vielen Belangen der Fall ist. Mögen wir uns dem gütigen Geschick, das uns vor 13 Jahren beschert wurde, gewachsen erweisen.

 

Auszugsweise erschienen in Ossietzky 21/2003