Legenden und Illusionen

 

 Nichts ist den Legenden und Illusionen, die seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland über sie verbreitet werden und  in diesem Jubiläumsjahr eine neue Blüte erleben, abträglicher, als wenn man ihnen auf den Grund geht und sie an der gesellschaftlichen Realität misst.  Das gilt neben anderen gängigen Begriffen insbesondere für die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“, den „Rechtsstaat“ und  „Sozialstaat“ BRD.

Mag es den Regierenden und den Massenmedien vor 1990 noch mehr oder weniger gelungen sein, diesen Begriffen den Anschein einer gewissen Glaubwürdigkeit zu geben, so hat sich die Situation während der vergangenen 20 Jahre sichtbar gewandelt.

Kaum jemand, der politisch  ernst genommen werden möchte, wird angesichts der dramatischen Folgen des jahrzehntelangen sozialen Raubbaus und der Verteilung von unten nach oben noch behaupten wollen, die BRD sei ein Sozialstaat. Wozu auch? Der andere deutsche Staat, der erwiesenermaßen ein sozialer Staat war und deshalb bei Verhandlungen  über soziale Fragen in der BRD unsichtbar mit am Tisch saß und mit seiner Sozialpolitik die Entscheidungen  beeinflusste,  existiert nicht mehr, sodass der Imperialismus in Hausherrenmanier nach vier Jahrzehnten erzwungener  relativer Zurückhaltung endliche wieder sein wahres Gesicht zeigen und mit den „Sozialpartnern“ und Empfängern sozialer Leistungen Tacheles reden kann.

 

Was es mit der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ in Wahrheit auf sich hat, zeigte sich bereits bei der Gründung der BRD. So entstand die Verfassung des westdeutschen Separatstaates, das Grundgesetz, nicht wie zum Beispiel die Verfassung des „Unrechtsstaates“ DDR im Ergebnis einer monatelangen breiten demokratischen Volksaussprache und einer Volksabstimmung, sondern als Ergebnis eines von der demokratischen Öffentlichkeit abgeschirmten Wirkens von 65   Verwaltungsbeamten und Politikern  -  „Parlamentarischer  Rat“ genannt  -, der das Grundgesetz erarbeitete und am 23. Mai 1949 verkündete. Ein zutiefst undemokratischer Akt, der als „Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland“ gilt und dessen 20. Jahrestag im Gedenkjahr 2009 besonders feierlich begangen wurde.

 

Getreu dieser „demokratischen“ Tradition wurde 41 Jahre später nach dem Anschluss der DDR an die BRD auch der Bevölkerung des staatlich vereinten Deutschlands das Recht auf eine demokratisch zustande gekommene Verfassung verweigert. Statt dessen haben die politisch Verantwortlichen der Alt-BRD das zeitlich und räumlich als Provisorium konzipierte Grundgesetz mit einigen kleinen kosmetischen Veränderungen den ehemaligen DDR-Bürgern  ungefragt übergestülpt.

Der 2007 verstorbene herausragende Wissenschaftler, Jurist und Verfassungsrechtler Professor Helmut Ridder von der Universität Gießen wies darauf hin, dass der Artikel 23 GG völlig unberechtigt und in Bruch der Verfassung für den Beitritt angewendet wurde. Denn die nach Ridder „letztwillige Verfügung“ des Grundgesetzes ist Artikel 146, der vorsah, dass das Grundgesetz mit der „Erreichung der mit allen Kräften anzustrebenden Einheit Deutschlands auch das Ende der Übergangszeit markiere, für deren Dauer das Grundgesetz laut Präambel ergangen, mithin  auch für die BRD konstatiert worden sei, und die nach Artikel 146 enthaltene letztwillige Verfügung des GG dann durch das Inkrafttreten einer von dem deutschen Volk ‚in freier Entscheidung’ (für das wiedervereinigte Deutschland) beschlossenen Verfassung förmlich abgeschlossen sein werde“. Damit wurde der Beitritt selbst zu einem grundgesetzwidrigen Akt!

 

In beiden Fällen wurde dem Volk von den Herrschenden das Recht auf eine von ihm entscheidend mit erarbeitete und in „freier Entscheidung“ beschlossene Verfassung aus machtpolitischen Gründen vorenthalten:  Bei  der Gründung der BRD im Jahr 1949 aus berechtigter Furcht vor der Ablehnung der Spaltung Deutschlands durch über 70 Prozent der westdeutschen Bevölkerung und nach Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands im Jahr 1990 aus berechtigter Furcht vor einer Verfassung, die auch die Handschrift ehemaliger DDR-Bürger trägt.

Deshalb galt es zu verhindern, dass  der bereits vorliegende Entwurf des „Runden Tisches“ der DDR gleichberechtigt in eine neue Verfassung  für Gesamtdeutschland einbezogen wurde. Eine Verfassung, die der grenzenlosen Profitgier des deutschen Imperialismus, seiner gnadenlosen Ausbeutung, seinen ökonomischen und militärischen Expansionsgelüsten und seiner Aggressivität Zügel angelegt und solchen Forderungen der Bevölkerungsmehrheit wie Recht auf Arbeit, auf Wohnung und auf Bildung, auf kostenlose  medizinische Versorgung, nach  realer Gleichberechtigung der Frau, nach wirksamer Mitbestimmungsrecht der Betriebsbelegschaften, einer dem Frieden, der Völkerfreundschaft,  und der Achtung der Gleichberechtigung der Völker verpflichteten Politik der Bundesregierung sowie nach einem kompromisslosen Kampf der gesamten Gesellschaft gegen Revanchismus und Neonazismus Verfassungsrang  gegeben hätte.

 

Wie wir täglich erleben, spielen in der politischen Auseinandersetzung über die Vergangenheit der „Rechtsstaat“ BRD und der „Unrechtsstaat“ DDR eine zentrale Rolle. Die heute Herrschenden und die Massenmedien scheuen weder Mühe noch Kosten, um zu beweisen, dass die DDR ein „Unrechtsstaat“ war, wobei es sie in keiner Weise stört, sich nicht eines juristischen Rechtsbegriffes, sondern eines Kampfbegriffes zu bedienen, den man je nach Bedarf in der politischen Auseinandersetzung verwendet. Ebenso wenig stört es sie, die DDR mit diesem Etikett zu versehen, nicht aber  die Türkei, den Iran, die USA und Südafrika zur Zeit der Apartheid. Und es regt sie auch nicht zum kritischen Nachdenken an, wenn  der Rechtswissenschaftler Professor Peter-Alexis Albrecht von der Universität Frankfurt  im Hinblick auf die zunehmende Einschränkung und Beseitigung demokratischer und persönlicher Grundrechte unter dem Vorwand der Erhöhung der Inneren Sicherheit warnend  erklärt, dass sich der Rechtsstaat „mittendrin in der Auflösung“ befindet, die Politik den Rechtsstaat „vernichtet“,  was „im Grunde das Verbrechen“  ist. ( ZDF-Magazin frontal am 8.5.2007)

 

In seinem in junge Welt vom 10. Juni 2009 erschienenen Beitrag „Klassenjustiz konträr“ stellt der renommierte Rechtsanwalt und Strafverteidiger Dr. Friedrich Wolff einen ebenso interessanten wie aufschlussreichen DDR-BRD-Vergleich an, indem er „Unrecht im Rechtsstaat und Recht im Unrechtsstaat“ gegenüberstellt.

Bekanntlich behauptet die Bundesregierung, in der DDR wurden Unschuldige verurteilt, wurde gefoltert und zwangsadoptiert. Für die Besichtigung eines solchen „Foltertatortes“ wird die zentrale Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Hohenschönhausen, heute Gedenkstätte, empfohlen, wovon Angela Merkel zwar spät, aber eben noch rechtzeitig während der Wirtschaftskrise und in gebührlicher medialer Begleitung Gebrauch gemacht hat. „Merkwürdig“, so erklärt Friedrich Wolff, „dass kein DDR-Bürger wegen dieser Folter und diesen Zwangsadoptionen verurteilt wurde. Die Gedenkstätte  tritt an die Stelle von rechtsstaatlichen Beweisen.“

 

Was die Verfolgung und Verurteilung Unschuldiger angeht, sollte, wer selbst  im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen werfen.  Diejenigen, die heute als in der DDR unschuldig Verurteilte gelten, waren Gegner des dortigen  sozialistischen Systems. Auch in der BRD gab es Menschen, die den Kapitalismus nicht mochten, Gegner des dortigen kapitalistische System waren, und vom Staat verfolgt und verurteilt wurden. In der Zeit von 1949 bis 1968 verfolgte die politische Justiz geschätzte 125 000 Kommunisten oder solche, die dafür gehalten wurden; Tausende von ihnen wurden verurteilt, was Professor Werner Maihofer, von 1974 bis 1978 Bundesinnenminister, veranlasste zu erklären, dass die Zahlen der Ermittlungsverfahren gegen Kommunisten „einem ausgewachsenen Polizeistaat alle Ehre machten“.

 

Während  im „Unrechtsstaat“ DDR Homosexuelle, die bekanntlich für ihre sexuellen Neigungen keine Schuld tragen, seit 1957 nicht mehr bestraft wurden, kam es dagegen im „Rechtsstaat“ BRD von 1958 bis 1968 noch zu 31 968 (!) Verurteilungen Unschuldiger.

 

Unterschiedliche Regelungen mit unterschiedlichen Folgen für Angeklagte gibt es auch im Strafverfahrensrecht. So wird im „Rechtsstaat“  BRD in Verfahren, die schwerste Straftaten zum Gegenstand haben, kein Wortprotokoll geführt. Der bekannte Münchner Rechtsanwalt Rolf Bossi beklagt: „Weil es vor dem Schwurgericht kein Wortprotokoll gibt, können Richter in ihrer Urteilsbegründung den Verhandlungsverlauf und die Zeugenaussagen nach eigenem Gusto so wiedergeben, dass es ihrer Urteilsfindung entspricht. Widerspruch ist damit chancenlos.“ Bossi schlussfolgert: „Im Prinzip ist damit der Willkür Tür und Tor geöffnet. Richter können Zeugenaussagen ignorieren, missverstehen, verdrehen und in einzelnen Fällen sogar bewusst verfälschen, ohne dass es ihnen nachweisbar wäre. Es gibt praktisch keine Möglichkeit, diese schriftliche Darstellung einer Schwurgerichtskammer in Zweifel zu ziehen oder gar zu widerlegen.“

 

Im „Unrechtsstaat“ DDR  dagegen gab es entsprechend den Paragraphen 252, 253  StPO-DDR in jedem Strafverfahren Protokolle, die die Aussagen der Prozessbeteiligten wiedergaben und dem Berufungsgericht zur Überprüfung der Tatsachenfeststellung des angegriffenen  Urteils dienten.  Friedrich Wolff weist in diesem Zusammenhang noch auf einen weiteren wichtigen Unterschied hin: „Nach Paragraph 8 der Strafprozessordnung der DDR war die ‚Feststellung der Wahrheit’ Voraussetzung der Entscheidung. Über den bundesrepublikanischen Strafprozess heißt es im Paragraph 261 der StPO: ‚Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung’. Ein kleiner, aber wohl doch nicht feiner Unterschied: Überzeugung kontra objektiver Wahrheit. Auch das kann manches Fehlurteil erklären. Wenn Polizisten Demonstranten erschießen, ist der Richter von Notwehr leicht zu überzeugen.“

An dieser Stelle sei an die Entscheidung einer Bundestagsmehrheit vom 28. Mai 2009 erinnert, die den Deal vor Gericht, dessen Abschaffung nicht nur verantwortungsbewusste Juristen seit Jahren fordern, zum Gesetz zu erheben und damit den Handel mit der Gerechtigkeit zum offiziellen Teil und Wesenskern des deutschen Strafrechts zu machen. Eine Entscheidung, die in der DDR  undenkbar gewesen wäre.

 

Schlussfolgernd aus seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Anwalt vor bundesdeutschen Gerichten resümiert Rolf Bossi: “Beim Thema Justizunrecht scheinen die genannten Stellen (Spitzen des Staates und der Justiz – H.F.) der Illusion anzuhängen, dass nicht sein kann, was in einem Rechtsstaat nicht sein darf: dass Richter sich in Einzelfällen aus ihrer Machtfülle heraus über das Recht und über die Grundsätze von Wahrheit und Gerechtigkeit hinwegsetzen. Skandalöse Missstände also, die daran zweifeln lassen, ob im Zweifel tatsächlich für den Angeklagten Recht gesprochen wird. Missstände zudem, denen auf Seiten der Verantwortlichen offenbar niemand entgegentreten will, ja, die man dort nicht einmal öffentlich diskutiert sehen möchte.“ (Rolf Bossi, Halbgötter in Schwarz. Deutschlands Justiz am Pranger, Frankfurt/ Main 2005, S.88)

 

Es ist kein Zufall, dass diejenigen, die am lautesten die DDR als „Unrechtsstaat“ verleumden, einem Vergleich, in welchem der beiden deutschen Staaten Unrecht häufiger geschah, aus dem Wege gehen und auch geflissentlich darüber hinwegsehen, dass  zu den ersten Anschaffungen der angeschlossenen ehemaligen DDR-Bürger einbruchssichere Türen und Alarmanlagen gehörten, dass es im „Unrechtsstaat“ DDR Polizeischutz für Schulen, von einer einflussreichen Waffen-Lobby erreichte großzügige Waffengesetze, die es Amokschützen leicht machen, viele unschuldige Menschen zu ermorden, Todesfälle in Polizeiobhut und mehrfache Selbstmorde im politischen Knast wie in Stammheim von RAF-Beschuldigten  nicht  gegeben hat.

 

Professor Erich Buchholz machte 2001 Angaben über die Zahl der Straftaten in beiden deutschen Staaten. Berechnet auf jeweils 100 000 Einwohner ergibt sich danach folgendes Bild der sogenannten Kriminalitätsbelastung:

Jahre    BRD   DDR    mal soviel.

1960      3660   806               4 1/2

1970      3924   640               6 1/2

1980      6198   772               8 1/2

1987      7269   690             10 ½

Buchholz zieht daraus den Schluss: „Mithin kam in den letzten Jahren der DDR auf einen Bundesbürger eine mehr als zehnfache Kriminalitätsbelastung als in der DDR. Und Friedrich Wolff ergänzt: „Der informierte Bundesbürger weiß natürlich, die DDR-Statistik lügt und glaubt den Zahlen nicht. Manche DDR-Bürger werden ihnen glauben, sie haben entsprechende Erfahrungen.“

 

Friedrich Wolff beschränkt sich bei seinen Untersuchungen aber  nicht allein auf Straftaten, sondern bezieht auch Streitigkeiten auf den Gebieten des Zivilrechts, des Sozialrechts und des Arbeitsrechts mit ein. So ergeben sich laut Angaben des Berliner Rechtsanwalts Andreas Henselmann im Berliner Anwaltsblatt  vom Mai 2009 grob geschätzt pro Jahr über vier Millionen Verfahren  -  eine Situation, die er wie folgt kritisch kommentiert: “Weder die Gerichte noch die Staatsanwaltschaften und auch nicht die Rechtsanwälte sind unter den jetzigen Bedingungen in der Lage, Ansprüche an ein modernes Rechtswesen zu erfüllen.“

Die Tatsache, dass hinter jedem dieser Prozesse wenigstens eine von dieser oder jenen Partei begangene Rechtsverletzung steht, erlaubt den Schluss, dass im „Rechtsstaat“ BRD immer mehr Menschen immer häufiger das Recht missachten.

 

Aufschlussreich ist auch ein Vergleich der Anzahl der Richter in beiden deutschen Staaten. Friedrich Wolff geht  aufgrund er ihm bekannten Angaben davon aus, dass es im „Unrechtsstaat“ DDR allenfalls 1313 Richter gab. Im „Rechtsstaat“  BRD dagegen amtierten nach dem Statistischen Jahrbuch 2000 an den ordentlichen Gerichten 15547 und an den Arbeitsgerichten 1163 Richter und die waren ebenso wie die Staatsanwälte noch überlastet. Das bedeutet, dass die Bundesrepublik gerechnet auf den Kopf der Bevölkerung etwa 12,5mal so viele Richter besaß wie die DDR. Die DDR-Statistik war also in diesem Punkt so falsch nicht. Und dennoch gab und gibt es, wie jüngst wieder bekannt wurde, Justizpannen, die eine steigende  Zahl der vorzeitigen Haftentlassungen mutmaßlicher Verbrecher aus der Untersuchungshaft zur Folge hatten. Wie aus einer Auflistung  der Berliner Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) von September 2007 hervorgeht, wurden 2006 zehn Haftbefehle vom Kammergericht aufgehoben, weil die Gefangenen zu lange in Untersuchungshaft saßen. In den Vorjahren hatte die Zahl noch drei (2004) beziehungsweise fünf (2005) betragen. Bis zum 16. August dieses Jahres waren vier noch nicht rechtskräftig verurteilte Kriminelle wieder auf freien  Fuß gekommen, teilte die Justisenatorin in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage des CDU-Abgeordneten Sven Rissmann mit. Zu diesem Zeitpunkt war der aktuelle Fall der entlassenen drei Kokainhändler, die vom Landgericht zu langen Haftstrafen verurteilt worden waren, noch nicht bekannt.

 

Im Arbeitsrecht unterscheiden sich „Rechts“- und „Unrechts“-Staat besonders krass. Hilde Benjamin berichtet in ihrer „Geschichte der Rechtspflege in der DDR“ dass es dort im Arbeitsrecht 1964 9125 und 1971 6842 Gerichtsverfahren gab. Das Statistische Jahrbuch der BRD 1965 verzeichnete für das Jahr 1962 187 347 Neueingänge und für 19963 195 343. Es gab also im „Rechtsstaat“ 20mal soviel Arbeitsrechtsstreitigkeiten wie im „Unrechtsstaat“ bei einer nur zirka 3,5fach größeren Bevölkerung. Über die Ursachen dieser Differenz zwischen „Rechts“- und „Unrechts“-Staat  berichtet der Kölner Journalist Werner Rügemer unter der vielsagenden Überschrift „Arbeits-Unrecht. Arbeits-Unfrieden“ (Ossietzky,Heft 10/2009, S. 371)

 

Auch was die konkrete Verwirklichung des Verfassungsgrundsatzes „Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz“ angeht, gibt es zwischen beiden deutschen Staaten spürbare Unterschiede. Zwar hat in der BRD der Arme das gleiche Recht wie der Reiche, das Gericht anzurufen und bekommt bei entsprechender Bedürftigkeit auch Prozesskostenhilfe. Doch die Tücke liegt auch hier im verborgenen. Nicht jeder Anwalt ist bereit, für die niedrigen Gebühren zu arbeiten, die er im Wege der Prozesskostenhilfe erhält. Je besser und gesuchter aber der Anwalt ist, desto weniger wird er bereit sein, zu diesen Bedingungen ein Mandat zu übernehmen. Von der Fähigkeit des Anwalts hängt jedoch vielfach der Ausgang eines Zivilprozesses in der BRD ab, mehr als in der DDR.

Rolf Lamprecht, ein bekannter Gerichtsreporter, gibt zu diesem Thema eine Nachricht aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.vom 8. März 1995 wieder: „Wenn 68 Prozent aller Deutschen (im Osten sogar 73 Prozent) der Überzeugung sind, dass der Gerechtigkeitsgedanke des Grundgesetzes (‚Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich’) in der Bundesrepublik nicht verwirklicht wird, muss der Glaubwürdigkeitsverlust schon weit fortgeschritten sein.“

 

Strafverfahren waren in der DDR gebührenfrei. Nur die Auslagen des Verfahrens wurden dem Verurteilten auferlegt Dazu gehörten auch die Gebühren eines Pflichtverteidigers. Diese waren jedoch in der DDR wesentlich niedriger als in der BRD. Da in der DDR die Strafprozesse bedeutend kürzer waren als in der BRD, belasteten sie auch aus diesem Grunde den Verurteilten weniger. Ebenso wenig wurden ihm die Haftkosten auferlegt. Nur wenn er im Strafvollzug gearbeitet hatte, wurden ihm Haftkosten von dem Arbeitsverdienst abgezogen. So hatte ein aus dem Strafvollzug Entlassener in der Regel keine Schulden. Er bekam auch Arbeit und einen Wohnraum zugewiesen. In der BRD stehen ihm diese Rechte nicht zu.

Eine „Strafe nach der Strafe“ in Höhe bis zu mehreren Zehntausend Euro, wie sie von der Justiz des „Rechtsstaates“  verurteilten ehemaligen Hoheitsträgern der DDR in Gestalt von in Rechnung gestellter Prozesskosten auferlegt wurde, und die sie und ihre Familien oft an den sozialen Rand drängten, gab es im „Unrechtsstaat“ DDR nicht.

 

Im Ergebnis seiner langjährigen anwaltlichen Erfahrungen mit der Justiz in beiden deutschen Staaten kommt Friedrich Wolff zu einer weiteren  bemerkenswerten Einschätzung:

„Im Alltag sind die Rechte der Bundesbürger gegenüber dem DDR-Bürger weniger vorteilhaft ausgestaltet. Im Arbeitsrecht z.B. war der Werktätige der DDR besser gestellt als der abhängig Beschäftigte in der BRD. Sein Lohn oder Gehalt musste er nicht verschweigen, ausspioniert, ob er zu häufig auf die Toilette geht, wurde er auch nicht.. Im Betrieb konnte er seine Meinung freier äußern. Last but not least, sein Arbeitsplatz war sicherer. Erstaunlich, auch im Zivilrecht der DDR war der Bürger freier, mündiger als in dem der BRD. So gab es vor Gericht im Zivilprozess keinen Anwaltszwang. Jeder Bürger konnte selbst  Klagen einreichen und sich im Rechtsstreit selbst vertreten. Das war z.B. im Ehescheidungsverfahren sehr häufig der Fall und minderte die Kosten erheblich. Der Bürger konnte auch über sein Vermögen für  den Todesfall uneingeschränkter verfügen. Einen Pflichtteilanspruch gab es nur für die noch unterhaltsberechtigten Kinder. Viele  Manipulationen, die heute vorgenommen werden, um dem Pflichtteilanspruch etwa von unehelichen Kindern zu entgehen, mit denen der Vater nie Kontakt hatte,  entfielen dadurch.“

 

Im Gegensatz zur heutigen offiziösen und von den Massenmedien verbreiteten  Verleumdung, die DDR-Justiz sei, so wie der gesamte Staat ein „Unrechtsstaat“  war, selbst auch eine „Unrechtsjustiz“ ohne Legitimation gewesen, zeigt sich der US-Jurist Peter W. Sperlich, Professor an der Universität Berkeley, in seinem fast 350 Seiten umfassenden Buch von den gesellschaftlichen Gerichten der DDR beeindruckt. Mehr noch, in seiner materialreichen Arbeit „The East German Sozial Courts. Law and Popular Justice in a Marxist-Leninist Society („Die ostdeutschen gesellschaftlichen Gerichte. Recht und Volksjustiz in einer marxistisch-leninistischen Gesellschaft“) meint er, die USA sollten insoweit von der DDR lernen. Wer ist dieser Autor? Etwa ein verkappter Kommunist? Ach, bewahre! Die DDR liebt er nicht, und überhaupt lehnt er alles Kommunistische ab. Er schätzt die persönliche Freiheit des US-Bürgers über alles. Dennoch ist er offensichtlich gewillt und in der Lage, die gesellschaftlichen Verhältnisse in einem nichtkapitalistischen  Staat sachlich und different zu betrachten. Eine Fähigkeit, die den politisch Verantwortlichen der Alt-BRD völlig fehlt.

Ob es den antikommunistischen Feinden der DDR nun passt oder nicht: Die DDR war zweifelsfrei ein von der Völkergemeinschaft anerkannter  moderner Staat mit einem durchgearbeiteten Rechtssystem, von dem sich das Rechtssystem der BRD in mancherlei Hinsicht hätte eine Scheibe abschneiden können..

 

Friedrich Wolff hat in seinem Beitrag nur Teile der beiden Rechtssysteme verglichen. Sie dürften aber dennoch repäsentativ für das Unrecht im „Rechtsstaat!“ und für das Recht im „Unrechtsstaat“ sein. Höchste Zeit also, mit Schlagworten, Kampfbegriffen, unsachlichen Pauschalurteilen, vor allem aber  mit dem unsinnigen Gerede vom „Unrechtsstaat“ und seiner „Unrechtsjustiz“ Schluss zu machen und sich endlich konkreten historischen Fakten und aktuellen Entwicklungen zuzuwenden Und  zu ihnen gehört  neben dem oben Gesagten die Tatsache, dass die Justiz der  BRD den international geltenden elementaren Rechtsgrundsatz keine Strafe ohne Gesetz für ehemalige DDR-Bürger ausgesetzt  und damit gleichzeitig im Auftrag der Bundesregierung den mit der DDR abgeschlossenen  Grundlagenvertrag, den  Einigungsvertrag und das Rückwirkungsverbot der eigenen Verfassung quasi zerrissen hat. Dazu gehören Rechtsbeugungen,  massenhaft rechtswidrig geführte  Strafverfahren gegen ehemalige DDR-Bürger und  „ ‚gesetzlose’ Verurteilungen bzw. beim BVerfG um die Bestätigung solcher rechtlosen Justizakte“ (Helmut Ridder); dazu gehört aber auch, dass der „Rechtsstaat“ BRD mit seiner nachgewiesenen geheimdienstlichen Vorarbeit und seiner großzügigen logistischen Unterstützung der Aggression der USA gegen den Irak  den 2+4-Vertrag aufs Gröbste verletzt hat und weiter verletzt.

Wer sich also mit Oberflächlichkeiten und Schlagworten nicht zufrieden gibt, sondern die Rechtssysteme beider deutschen Staaten unvoreingenommen betrachtet, miteinander vergleicht und zum Gegenstand seriöser Untersuchungen macht, der wird  bald erkennen, dass es nicht die DDR ist, die das Etikett „Unrechtsstaat“ verdient!

 

Wenn eingangs darauf hingewiesen wird, dass den Legenden und Illusionen über die BRD nichts abträglicher sei, als wenn man ihnen auf den Grund geht und sie an der gesellschaftlichen Realität misst, dann gilt das nicht zuletzt auch für solche Grundgesetzartikel bzw. gängigen Begriffe wie zum Beispiel:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, „Männer und  Frauen sind gleichberechtigt“ „Eigentum verpflichtet“,“ Gleichheit vor dem Gesetz“ „Sozialpartnerschaft“, „Gewaltenteilung“, „Unabhängigkeit der Richter“, „Staatsbürger in Uniform“, „humanitäre Einsatz der Bundeswehr“, „Leistungsträger der Gesellschaft“ und andere.

Schon Goethe sagte einmal zu Recht:  „...an Worte lässt sich trefflich glauben...“

 

Hans Fricke

Rostock

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Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches

„Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg“, 383 Seiten, Preis 19,90 Euro,

ISBN 978-3-89793-155-8

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