Gedanken zur Entscheidung des BVerfG vom 06. Juli 2010

zu § 6 Abs. 2 AAÜG

 

Jahrzehnte war der Kommunist Willy Seifert Stellvertreter des Ministers des Innern. Mit 18 Jahren steckten ihn die Nazis in das Konzentrationslager Buchenwald. Als gealterter junger Mann kam er 1945 in Freiheit und baute die Deutsche Volkspolizei mit auf. In einem Gespräch mit ihm über die schleppende Verfolgung der Mörder Ernst Thälmanns durch die Justiz der BRD sagte er mir:

„Merk Dir eins: Ein Kommunist erfährt durch die Klassenjustiz keine Gerechtigkeit.“ Daran musste ich nach dem Lesen der Entscheidung des BVG über die Rentenkürzungen von Ministern und deren Stellvertreter denken.

 

Das BVerfG hat eine klare politische Entscheidung getroffen. Es hat Recht gesetzt im Sinne der ökonomisch und politisch Herrschenden. Die Meinung des Volkes, die in den Stellungnahmen des Seniorenverbandes, von ISOR e. V., dem Deutschen Bundeswehrverband und der Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. zum Ausdruck kommt, hat das Gericht nicht berücksichtigt. Die Beibehaltung der Rentenkürzungen wird ganz offen begründet mit „Parteilichkeit und Systemtreue“ der bestraften Personen.  Deren Schuld sieht das BVG darin, dass sie „einen erheblichen Beitrag zur Stärkung oder Aufrechterhaltung des politischen Systems der DDR geleistet haben.“

Dies war aber der Auftrag dieser Personen aus der Verfassung der DDR. Die Rentenkürzungen der Minister und ihrer Stellvertreter erfolgt also, weil sie treu zur Verfassung standen und zum Wohle der Bürger ihren Staat stärkten.

 

Ich danke dem BVerfG für öffentliche Wertschätzung meiner Arbeit als Stellvertreter des Ministers. Ich hätte für meine zweijährige Tätigkeit nicht gewagt, mich so ins Bild zu setzen. Mein Beitrag war eher bescheiden. Aber auf zwei „erhebliche“ Beiträge möchte ich dennoch verweisen: Die Modrow-Regierung, nicht das Politbüro der SED, machte mich zum Chef der DVP. Und dies in der stürmischen Zeit 1989. Das die Volkpolizei ruhig und besonnen die Sicherheit und Ordnung im Lande gewährleistete, macht meinen kleinen Beitrag größer. Ein anderer Beitrag drückt sich in einem Geschenk des Vorsitzenden des Rates der Holocaustgedenkstätte der USA mit folgender Widmung aus:

„Für Generalmajor Dieter Winderlich in Erinnerung für Ihre Hilfe beim Erforschen der tragischen Resultate der Hitlerdiktatur.“

Anderseits schmerzt es mich, dass ich nun dafür lebenslänglich eine Rentenkürzung hinnehmen muss. Aber der Stolz ist größer als der Schmerz.

 

Das BVerfG hat sich um grundsätzliche Entscheidungen zu dem Personenkreis, der noch von Rentenkürzungen betroffen ist, gedrückt, obwohl die Sozialgerichte darum in ihren Vorlagen gebeten hatten. Damit wird der Klärungsprozess auf Jahre hinaus geschoben, in der Hoffnung, die Sache würde sich biologisch  lösen.

 

Die Feststellung des BVerfG in Ziffer 64, dass Empfänger von Zusatz- und Sonderversorgungen „grundsätzlich weniger schutzbedürftig als die sonstigen Rentner“ sind, ist ein politischer und juristischer Skandal. Solche Einteilungen ganzer Gruppen von Menschen in „schutzbedürftig“, „weniger schutzbedürftig“, „minderwertig“ und „artfremd“ kenne ich nur aus der braunen Vergangenheit. M.E. verbietet das GG eine solche Einteilung.

 

Das BVerfG beruft sich immer wieder auf Begrenzungsreglungen, die die Volkskammer der DDR 1990 getroffen hat. Es blendet aus, dass diese Reglungen wegen dem schnellen Beitritt der DDR zur BRD nicht mehr gründlich überprüft und rechtlich genauer ausgeregelt werden konnten.

Das Rentenüberleitungsgesetz vom 28. Juni 1990 begrenzte zwar die Renten für bestimmte Empfänger auf 2010 Mark, sah aber für die Zukunft eine Überführung aller Versorgungsansprüche in die allgemeine Rentenversicherung vor, so wie die Möglichkeit einer Kürzung von Ansprüchen und Anwartschaften aus zusätzlichen Versorgungen nach einer Prüfung im Einzelfall. Auf eine Einzelfallprüfung könnte das BVerfG abstellen, vermerkt aber nur hier: „Dieses Programm des Rentenangleichungsgesetzes konnte wegen des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik nicht mehr umgesetzt werden.“ Man muss es dem BVerfG zu gute halten, dass es nicht von der deutschen Einheit oder der Wiedervereinigung spricht, sondern exakt rechtlich formuliert „Beitritt“.

Generell muss man aber die Frage stellen: Warum übernimmt das BVerfG in seiner Argumentation alles aus der DDR-Zeit, was gegen die Kläger spricht und schiebt alles weg (Einzelfallprüfung), was zugunsten der Kläger sich auswirken würde? Ich fürchte keine Einzelfallprüfung, wohl aber der Gesetzgeber.

 

Die Kürzungen auf das Durchschnittsentgelt hat der Gesetzgeber mit „Weisungsbefugnis gegenüber dem MfS“ und „System der Selbstprivilegierung“ begründet. Das BVerfG verharmlost die auf falschen Tatsachen aufgebaute Rentenkürzung und nennt die Weisungsbefugnis nur eine ungeeignete Begründung. Wenn ein Gesetz auf falschen Tatbeständen aufbaut, aus denen sich Sanktionen ergeben, dann sind diese Sanktionen nichtig. In einem Rechtsstaat müsste ein solches Gesetz vom höchsten Gericht des Staates aufgehoben werden.

 

Eine Aufhebung aller kausalen Zusammenhänge praktiziert das BVerfG in Ziffer 74: „§ 6 Abs. 2 AAÜG sanktioniert nicht früheres Verhalten der Betroffenen durch Kürzung ihrer Renten, sondern versagt die Fortschreibung von Vorteilen aus dem System der DDR im Rentenrecht der Bundesrepublik.“

Es ist aber offensichtlich: Wenn kein „früheres Verhalten“ vorliegen würde, gäbe es bei diesen Personen keinen Grund eines willkürlichen, gesetzlich sanktionierten Eingriffes in ihre Rentenansprüche. Das aber „früheres Verhalten“ sanktioniert wird, unterstreicht das BVerfG durch Begründungen an anderer Stelle, wie „Parteilichkeit und Systemtreue“ u.a. Irgendwie erinnert mich die Sache an den Streit: Wer war zuerst da, das Ei oder das Huhn?

 

Der Wortlaut der Entscheidung des BVerfG macht an vielen Stellen deutlich, dass den Richtern die tatsächlichen Verhältnisse und Zusammenhänge in der DDR unbekannt geblieben sind oder dass sie sie absichtlich ausblenden. So schreiben sie in Ziffer 77: „Die Funktion eines Ministers oder stellvertretenden Ministers war mit einer Selbstbegünstigung verbunden, die sich nicht allein in der Entgelthöhe spiegelt….Gleichzeitig ist mit der Berufung in diese Position die Teilhabe an einem System vielfältiger Vergünstigungen verbunden gewesen, von denen der Durchschnittsbürger ausgeschlossen war.“ Dann nennen sie Beweise für ihre Behauptungen:

- „Anspruch auf Wohnraumversorgung aus dem Kontingent des Ministerrates“

  So etwas gab es für die Durchschnittsbürger doch auch. Jeder volkseigene 

  Betrieb, jede Genossenschaft und jede staatliche Dienststelle verfügte über ein

  Wohnungskontingent. Über die Reihenfolge der Vergabe entschied eine

  Wohnungskommission aus Vertreter von Gewerkschaft, Frauenverband und  

  Jugendorganisation.

 - „Zugang zu Instandhaltungs- und Dekorationsarbeiten seitens der   

   Wirtschaftsbetriebe des Ministerrates.“

   Auch Durchschnittsbürger nutzten die Instandhaltungskapazitäten der Betriebe

   und Genossenschaften gegen Entgelt. Baubrigaden halfen z.B. beim Bau

   von Eigenheimen.

-  „Ferienaufenthalt in Ferienheimen der Regierung“

   Außer den Ferienheimen der Gewerkschaft hatte die Mehrzahl der Betriebe,

   Genossenschaften, Vereinigungen und staatlichen Verwaltungen eigene 

   Betriebsferienheime, die allen Beschäftigten offen standen. Über die Vergabe

   Entschied auch hier eine Ferienkommission aus gewählten

   Betriebsangehörigen.

-  „Gesundheitsversorgung in den Krankenhäusern der Regierung“

   Außer den Ministern wurden auch Durchschnittsbürger im Regierungs-

   krankenhaus behandelt, wenn sie in Einrichtungen zentraler staatlicher

   Verwaltungen arbeiteten. Viele Betriebe und Institutionen hatten eigene

   Betriebspolikliniken. Auch im Krankenhaus der Volkspolizei wurden nicht

   nur Volkspolizisten behandelt.

Für mich und die anderen Stellvertreter des Ministers des Innern kann ich erklären, dass wir an dem o.g. System der „Vergünstigungen“ nicht Teil hatten.

Es müsste dem Gericht eigentlich klar sein, dass in keinem politischen System alle Durchschnittsbürger in Versorgungseinrichtungen der Regierung versorgt werden können. Wenn die Karlsruher Richter, abgeschottet vom Durchschnittsbürger, in einem noblen Speiseraum ihr Mittagessen einnehmen, kommt niemand auf die Idee, ihnen dies als Selbstprivilegierung anzukreiden.

Und auch die Bundestags- und Landtagsabgeordneten, die die Höhe ihrer Bezüge selbst festlegen, verwahren sich gegen den Vorwurf einer Selbstbegünstigung.

 

Das BVerfG entbindet mit seiner Entscheidung den Gesetzgeber bei Entscheidungen zu Zusatz- und Sonderversorgungssystemen die tatsächlichen Lohn- und Gehaltsstrukturen zu Grunde zu legen (Ziffern 67, 73). Damit wird der Weg frei gemacht, ohne Beweise Behauptungen über überhöhte Ansprüche aufstellen zu können und Leistungen zu kürzen. Warum das BVerfG die tatsächlichen Verhältnisse fürchtet, ist offensichtlich. Ich würde es begrüßen, wenn mal öffentlich festgestellt würde, wie groß der Unterschied zwischen dem Gehalt eines Stellvertreters des Ministers und dem eines Facharbeiters in Ost und West war.

 

Der politische und juristische Kampf um die Beseitigung des Rentenstrafrechts dauert nun schon 20 Jahre. Nur für die Minister und deren Stellvertreter liegt jetzt eine juristisch endgültige Entscheidung vor. Ob für die noch vom Rentenstrafrecht Betroffenen ( Mitarbeiter des MfS von der Putzfrau bis zum General, Leiter der Volkpolizei-Kreisämter, Direktoren der Kreisgerichte u.a.) eine gerechte höchstrichterliche Entscheidung erreicht wird, ist nach der Entscheidung des BVerfG vom 6. Juli 2010 nicht vorhersagbar. Aber es muß versucht werden. Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.

 

Ich danke allen ISOR-Mitgliedern, die durch ihre Solidarität geholfen haben, das BVerfG zu  solch einer klaren politischen Entscheidung zu veranlassen.

 

D. Winderlich