Anmerkungen zum Abschlussbericht der Vorstudie zum Thema

„Die Nachkriegsgeschichte des Bundesministeriums der Innern (BMI) und des Ministeriums der Innern der DDR (MdI) hinsichtlich möglicher personeller und sachlicher Kontinuitäten zur Zeit des Nationalsozialismus“

Karl-Heinz Schmalfuß, Generalleutnant a.D.

 

Zur Ausgangslage

Unter dem Thema

NS-Belastung und politischer Neuanfang. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin.“

fand am 4. November 2015 im Bundesministerium des Innern eine Tagung statt, an der ich teilgenommen habe. (Über sie ist im Internet ein 150-Seiten-Bericht unter dem oben genannten Titel veröffentlicht).

Bundesinnenminister de Maiziere hat im Februar dieses Jahres dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und dem Institut für Zeitgeschichte München- Berlin den Auftrag erteilt, das genannte Thema zu erforschen und in einer Vorstudie erste Erkenntnisse vorzulegen. Diese Vorstudie war Gegenstand der Novembertagung. An ihr nahmen zahlreiche Vertreter wissenschaftlicher, staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen teil.

Generell ist einzuschätzen, dass die Tagung ein bedeutsamer Beitrag zur Erforschung der Zeitgeschichte und durch eine bemerkenswerte Objektivität, Sachlichkeit und Offenheit gekennzeichnet war.

Über die wichtigsten Ergebnisse werde ich in der Folge berichten und dazu eine Reihe von Anmerkungen machen,

 

Zur Einschätzung des Bundesministeriums des Innern

Die Studie trifft dazu klare Aussagen. In die Gründung des BMI wurden weitgehend nationalsozialistische Eliten einbezogen. Mit Duldung der westlichen Alliierten, teilweise aber auch mit ihrer direkten Unterstützung kamen faschistische Kräfte in Führungsfunktionen, unter ihnen im Einzelfall sogar mutmaßliche Kriegsverbrecher.

Die Initiativen in der Personalpolitik gingen direkt von Adenauer aus. Er schuf sich dazu ein Führungsgremium, in dem unter anderen Erich Keßler, Hans Globke und Ritter von Lex die bestimmende Rolle spielten.

Der Aufbau des neuen Staates sollte mit bewährten Kräften vollzogen werden, vor allem mit solchen, die dem Antikommunismus verschworen waren. Dabei spielte das Berufsbeamtentum des 3. Reiches (131-er Gesetz) keine geringe Rolle.

Bezogen auf die Leiter im BMI ( gerechnet vom Referatsleiter aufwärts ) betrug der Anteil der früheren NSDAP- Mitglieder 54%. Er liegt damit über dem Durchschnitt anderer Ministerien. Im Außenministerium waren es 33%, im Bundesjustizministerium 48% und im Bundeswirtschaftsministerium 51%. Übertroffen wird das BMI vom Bundesnachrichtendienst mit 57% und vom Bundeskriminalamt mit 75%.

Die Zahlen zum BMI sind nicht statisch zu verstehen, sie beziehen sich auf die Zeit der Gründung. In der Folge steigen sie sogar noch an. Die Belastung betrug 1956 66%, 1958 62%, 1961 66%, 1965 64% und ging 1970 auf 50% zurück.

Antifaschistische Kräfte konnten als Leiter nur in wenigen Fällen mit einer Anstellung im BMI rechnen. Die eruierten Zahlen besagen, dass Emigranten ein Prozent, Widerstandskämpfer 2% und NS-Verfolgte 3% ausmachten.

 

Zur Einschätzung des Ministeriums des Innern

Eine NS- Belastung ist aber auch im MdI zu verzeichnen. Sie erreicht bei weitem nicht den Umfang des BMI und dürfte eher als eine Notlösung denn als Prinzip politischen Handelns zu werten sein. Die NS- Belastung der Leiter im MdI (gerechnet ab Referatsleiter aufwärts ) liegt bei 14%. Das ist höher als erwartet, doch muss man hier von zwei Zahlen ausgehen. Im bewaffneten Teil des MdI beträgt sie 7%, im zivilen Bereich liegt sie bei 20%. Den Schwerpunkt der Belastung findet man bei den Fachleuten des hydrometeorologischen Dienstes, im Bereich Geodäsie und Kartografie sowie in der Staatlichen Archivverwaltung. Die genauen Ursachen bedürfen der weiteren Klärung.

Insgesamt ist einzuschätzen, dass die antifaschistische Zielrichtung der Personalpolitik der DDR dadurch nicht beeinträchtigt wurde. Während die oberste Leitungsebene fast durchweg aus Antifaschisten bestand, wurde dieses Prinzip auch für die anderen Ebenen keineswegs vernachlässigt, es wurde jedoch mit der gesellschaftlichen Entwicklung immer wieder in Übereinstimmung gebracht.

Im Bericht wird mehrfach darauf hingewiesen, dass das MdI nach seiner Gründung immer wieder Aufgaben an andere Bereiche abgeben musste. Daraus wird die Vermutung abgeleitet, dass eine Entmachtung eingetreten sein könnte, die es weiter zu untersuchen gilt. Fakt ist, dass das MdI am Anfang ein Superministerium war. Ihm wurden besonders im zivilen Bereich zahlreiche Aufgaben übertragen, die es nur mit Mühe und unter großen Schwierigkeiten meistern konnte. Mir sind Meinungen bekannt, die davon ausgehen, dass für die Regierungsbildung in der DDR sehr wenig Zeit zur Verfügung stand und man mit Provisorien leben musste. Zu beachten ist auch, dass im Zeitraum von 1954 bis 1963 hinsichtlich der Verteidigungsfähigkeit und der Sicherheit der DDR sehr viele, zum Teil aber auch widersprüchliche und schnelllebige Beschlüsse gefasst wurden, die zumeist mit strukturellen Änderungen verbunden waren. Ich vertrete nicht die Auffassung, dass eine Entmachtung stattgefunden hat, eher würde ich von einer notwendigen Entflechtung sprechen. Allerdings bin ich kein Zeitzeuge, da ich erst 1960 nach dem Studium an einer sowjetischen Militärakademie als Seiteneinsteiger meinen Dienst im Stab des MdI aufnahm. Ich gehe davon aus, dass Zeitzeugen und auch Historiker hier weiterhelfen könnten.

Auf Seite 111 bringt der Bericht zum Ausdruck, dass der sowjetische Einfluss auf das MdI entscheidend und die Kontrolle des Kreml über die Entwicklung des MdI nach 1949 unvermindert stark war. Eine Beweisführung dazu wird nicht angetreten, auch eine Erläuterung gibt es nicht. Ich vertrete die Auffassung, dass man das so nicht stehen lassen kann. Natürlich hatte die DDR in der Strategie der Sowjetunion ihren festen Platz, aber in ihr spiegeln sich verschiedene Entwicklungsphasen wider, die an bestimmte Ereignisse und Vorgänge gebunden waren. Einige von ihnen will ich aufzählen. So wurde die Sowjetische Militäradministration zur Sowjetischen Kontrollkommission und diese zum Hohen Kommissariat. Nach dem 17.Juni 1953 und dem sowjetischen Einschreiten folgte die Beendigung der Reparationsleistungen, es gab Vergünstigungen hinsichtlich der  Wismut. Die DDR wurde Mitglied des RGW und des Warschauer Vertrages, zum Aufenthalt der Sowjetarmee wurde ein Stationierungsabkommen abgeschlossen. Einfluss hatte der Tod Stalins, die Entmachtung Berias und die Auseinandersetzung mit dem Personenkult. Das Ministerium für Staatssicherheit der SU wurde zum Komitee für Staatssicherheit umgebildet. 1960 erfolgte unter Chruschtschow die Auflösung des sowjetischen Innenministeriums, was zu einer deutlichen Minderung der Beziehungen zwischen dem MdI und dem sowjetischen Partner führte. Erst nachdem das sowjetische MdI 1966 neu gebildet wurde, kamen wieder feste Beziehungen zustande, die Initiative dazu ging wesentlich von Minister Dickel aus Das alles konkret zu erfassen wird nicht einfach sein, aber versuchen sollte man es.

Der Bericht ist nicht frei von fehlerhaften Darstellungen, Ungenauigkeiten, Auslassungen und Ungereimtheiten. Dazu einige Beispiele.

Auf Seite 16 wird dargelegt, dass die Kampfgruppen der Arbeiterklasse (in der Folge KG) seit 1954 dem MdI unterstellt sind. Das waren sie nicht. Das MdI wurde 1954 für die Ausbildung der KG verantwortlich gemacht. Dazu wurde eine spezielle Abteilung KG gebildet, die 1964 zu einer Hauptabteilung KG ausgebaut wurde. Die KG waren dem Generalsekretär des ZK der SED und den 1. Sekretären der SED in den Bezirken und Kreisen unterstellt (Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates, Vorsitzende der Bezirks- und Kreiseinsatzleitungen).

Auf Seite 112 unten ist der Satz: „nach der Gründung…“irreführend. Tatsächlich ist 1955 die Bereitschaftspolizei ( mit der neuen Bezeichnung Innere Truppen ), die Transportpolizei und die Grenzpolizei aus dem MdI  ausgegliedert und dem Staatssekretariat für Staatssicherheit unterstellt worden. Diese Maßnahme wurde aber Ende 1956 wieder rückgängig gemacht. Die genannten Kräfte kamen wieder zum MdI. Die Grenzpolizei verblieb bis Ende 1961 im MdI und kam dann unter der Bezeichnung Grenztruppen zum Ministerium für Nationale Verteidigung.

Auf den Seiten 128/129 wird die Vita von Karl Mellmann dargestellt. Er wird dort als Chef der KG bezeichnet. Das war er nie. Er war Leiter der Hauptabteilung KG und als solcher dem Stellvertreter des Ministers Bereitschaften/KG unterstellt. Befehlsbefugnisse gegenüber den KG hatte er nicht. In seiner Vita fehlt der Hinweis, dass er Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland war (s.3. Bd. des Werkes „So funktionierte die DDR“). Es ist von Interesse zu wissen, dass M. einen Stellvertreter mit antifaschistischer Vergangenheit hatte, gleichzeitig wurde ein junger Offizier mit militärakademischer Ausbildung auf die Übernahme der Funktion des Leiters der Hauptabteilung vorbereitet.

In der Vita von Innenminister Dickel sollte ergänzt werden, dass er von 1956 – 1958 die Generalstabsakademie der Sowjetarmee besuchte.

Auf den Seiten 119/120 sind die Ausführungen zum Kollegium nicht recht verständlich. Das Kollegium im MdI war kein übergeordnetes Gremium, sondern ein beratendes Organ für den Minister. Einen direkten Zusammenhang zwischen Kollegium und Stab gibt es nicht.

 

Weitere Schritte

Alles in allem dürfen wir auf die weiteren Schritte gespannt sein. Der Abschlussbericht verlangt von den beteiligten Einrichtungen noch große Anstrengungen, die noch einige Zeit in Anspruch nehmen werden. Die Untersuchungen werden möglicherweise noch zu geänderten Zahlen und Einschätzungen führen. Soweit möglich und gewünscht werden wir unsere Kenntnisse als Zeitzeugen bzw. als Wissenschaftler in das Vorhaben einbringen.